Die beiden Soziologien Max Webers. Von der „Entwicklungsgeschichte“ zur „Verstehenden Soziologie“ (K. Lichtblau; laufend)

Mit der neuen Edition von „Wirtschaft und Gesellschaft“ im Rahmen der Max-Weber-Gesamtausgabe sind eine Reihe von sachlichen Problemen verbunden, die in der Vergangenheit in der internationalen Weber-Forschung zu heftigen Kontroversen geführt hatten. Diese bezogen sich unter anderem auf die Frage, ob „Wirtschaft und Gesellschaft“ überhaupt der adäquate Titel für die unter diesem Namen überlieferten Texte Webers sei, ob es sich dabei um ein einheitliches Werk handele und wenn ja, ob dieses sein soziologisches Hauptwerk darstelle oder aber nicht. Die Herausgeber der Gesamtausgabe haben in den letzten Jahren viele Anstrengungen unternommen, das damit verbundene werkgeschichtliche Geheimnis zu lösen. Unstrittig war von Anfang an, daß Weber die von ihm in diesem Zusammenhang verfaßten Texte ursprünglich nicht als selbständige Publikation geplant hatte, sondern als Beitrag zu dem von ihm mitherausgegebenen Handbuch „Grundriß der Sozialökonomik“. Dieses Gemeinschaftswerk, an dem zahlreiche Autoren beteiligt waren und dessen Schriftleitung er in Absprache mit seinem Tübinger Verleger Paul Siebeck 1909 übernommen hatte, sollte einen umfassenden Überblick über den damaligen Forschungsstand innerhalb der Deutschen Historischen Schule der Nationalökonomie geben.

Wie wir heute wissen, hat Max Weber in diesem Zusammenhang zwei verschiedene Fassungen seines Beitrages zu diesem „Grundriß“ geschrieben: nämlich eine ältere, noch vor dem Ersten Weltkrieg entstandene, die sich in seinem Nachlaß befand, und eine jüngere, die er zwischen 1919-1920 geschrieben hat und deren Drucklegung er kurz vor seinem Tod noch selbst vorbereitete. Seine Frau Marianne hatte diese ersten vier Kapitel der definitiven Fassung von „Wirtschaft und Gesellschaft“ dann um jene Texte ergänzt, die sie im Nachlaß ihres Mannes fand und damit wesentlich zu dem Mythos beigetragen, daß es sich bei den unter diesem Titel bekannt gewordenen Texten um ein einheitliches Werk handele.

Diese in der Folgezeit heftig umstrittene Editionspraxis ist jetzt von den Herausgebern der Gesamtausgabe definitiv dahingehend korrigiert worden, daß die ältere und die neuere Fassung von „Wirtschaft und Gesellschaft“ nun in zwei deutlich voneinander getrennten Bänden erscheint, die auch jeweils verschiedene Untertitel tragen. Damit soll der Tatbestand unterstrichen werden, daß uns zwei verschiedene Fassungen von Webers Beitrag zum „Grundriß der Sozialökonomik“ überliefert worden sind, wobei er selbst offensichtlich nur die letztere für die Drucklegung vorgesehen hatte. Insofern muß der werkgeschichtliche Status der im Nachlaß gefundenen Vorkriegsmanuskripte nach wie vor als ungeklärt angesehen werden. In welchem Verhältnis stehen diese frühen Texte zu den anderen Teilen von „Wirtschaft und Gesellschaft“? Und welches Verständnis von Soziologie kommt in ihnen zum Ausdruck?

Der vor einiger Zeit verstorbene Mitherausgeber der Gesamtausgabe Wolfgang J. Mommsen ging von drei unterschiedlichen Arbeitsphasen Max Webers aus, die auf den komplexen Entstehungsprozeß von „Wirtschaft und Gesellschaft“ verweisen: den Zeitraum zwischen 1910-12, in dem die frühen Texte über die „Gemeinschaften“ entstanden sind; den Zeitraum zwischen 1913-1914, in dem Weber seine Religions- und Rechtssoziologie sowie die ältere Fassung seiner Herrschaftssoziologie niedergeschrieben hatte; ferner den Zeitraum zwischen 1919-1920, in dem Max Weber mit der Überarbeitung seines Beitrages zum „Grundriß“ begann und in dem er die ersten vier Kapitel von „Wirtschaft und Gesellschaft“ für den Druck vorbereitete. Mommsen zufolge überwiegt in den frühen Texten noch ganz die Gemeinschaftsthematik. Dies lasse sich damit erklären, daß Weber ja eine geschlossene Darstellung aller großen Gemeinschaftsformen beabsichtigt hatte, deren prinzipielles Verhältnis zur Wirtschaft er erörtern wollte. Erst in der zweiten Arbeitsphase von 1913-14 sei dann die Rationalisierung aller Lebensbereiche zum zentralen Thema von Max Webers Soziologie geworden. Terminologisch sei diese Veränderung daran erkennbar, daß Weber erst in dieser zweiten Phase im vollen Umfang von der in seinem Kategorienaufsatz entwickelten soziologischen Grundbegriffe Gebrauch gemacht habe. Während in den Texten der ersten Arbeitsphase noch die Begriffe „Gemeinschaft“, „Gemeinschaftshandeln“ und „Vergemeinschaftung“ im Mittelpunkt von Webers Analysen stünden, habe sich in der zweiten Phase das Schwergewicht auf die Begriffe „Gesellschaft“, „Gesellschaftshandeln“ und „Vergesellschaftung“ verschoben. Mommsen deutet dies als eine Vorwegnahme des Sprachgebrauchs, wie er sich in der endgültigen Fassung der soziologischen Grundbegriffe von 1919-1920 niedergeschlagen hat, auch wenn Weber in dieser letzten Phase die Begriffe „Vergemeinschaftung“ und „Vergesellschaftung“ in Anlehnung an Ferdinand Tönnies neu definiert hatte. Grundsätzlich habe Weber jedoch sein in der zweiten Arbeitsphase entwickeltes Verständnis von Soziologie später nicht mehr verändert, weshalb sein Kategorienaufsatz von 1913 auch als Vorwegnahme der definitiven Fassung seiner „Verstehenden Soziologie“ von 1919-1920 verstanden werden könne.

Mommsen bereichert die Weber-Forschung also um eine neue „These“. Während bisher von verschiedenen Interpreten die Ansicht vertreten worden ist, daß die soziologischen Grundbegriffe Max Webers von 1919-1920 nicht mit denen des Kategorienaufsatzes identisch seien, relativiert Mommsen die entsprechenden konzeptionellen und terminologischen Neuerungen, die Weber in seiner dritten Arbeitsphase vorgenommen hat. Statt dessen neigt Mommsen dazu, die frühen Texte über die „Gemeinschaften“ zu stark von jenen Texten abzugrenzen, die Weber im Zeitraum 1913-1914 geschrieben hat. Streng genommen läuft seine Argumentation darauf hinaus, daß wir es nicht nur mit drei verschiedenen Phasen von Max Webers Arbeit am „Grundriß“ zu tun haben, sondern daß Weber auch drei voneinander abweichende Konzeptionen von Soziologie vertreten hat, die in „Wirtschaft und Gesellschaft“ Eingang fanden.

Dies stellt jedoch offensichtlich eine Überdramatisierung der feststellbaren Unterschiede in Webers Vorkriegsmanuskripten dar. Zwar trifft Mommsens Auffassung zu, daß Webers Religions-, Rechts- und Herrschaftssoziologie eine Weiterentwicklung gegenüber den Texten über die „Gemeinschaften“ beinhaltet. Dies betrifft jedoch nicht die soziologischen Grundbegriffe, die Weber zu diesem Zeitpunkt verwendet hat, sondern die universalgeschichtliche Perspektive, die in seiner Religions-, Rechts- und Herrschaftssoziologie zum Ausdruck kommt. Denn Weber hat bereits in seiner ersten Arbeitsphase von der später in seinem Kategorienaufsatz entwickelten Terminologie Gebrauch gemacht. Zwar stimmt es, daß in den frühen Texten die Gemeinschafts- gegenüber der Gesellschaftsterminologie überwiegt. Dies liegt jedoch daran, daß Weber in seinen Vorkriegsmanuskripten die Begriffe „Gemeinschaft“, “Gemeinschaftshandeln“ und „Vergemeinschaftung“ noch in einem ganz neutralen Sinne als Oberbegriffe gebraucht hat, während die Begriffe „Gesellschaftshandeln“ und „Vergesellschaftung“ wesentlich enger gefaßt sind, da sie auf verschiedene Erscheinungsformen einer Rationalisierung des sozialen Lebens Bezug nehmen.

Weber hatte allerdings auch schon in seinen frühen Texten über die „Gemeinschaften“ entwicklungsgeschichtliche Reihen konstruiert, die verschiedene Epochen übergreifen, auch wenn diese noch nicht so differenziert und ausgearbeitet waren wie in seiner Religions-, Rechts- und Herrschaftssoziologie von 1913. Dies bedeutet, daß auch diese frühen Texte noch in der Tradition des evolutionistischen Denkens des 19. Jahrhunderts und der nationalökonomischen Stufentheorien stehen, auch wenn Weber selbst jeden geschichtsphilosophischen Dogmatismus vermied und immer nur von verschiedenen Entwicklungsmöglichkeiten sprach, die zu bestimmten Zeiten unter gewissen Voraussetzungen gegeben waren. Guenther Roth hat diese universalgeschichtliche Betrachtungsweise Max Webers deshalb zu Recht als eine spezifische Variante jenes „entwicklungsgeschichtlichen“ Denkens interpretiert, das sich zu Webers Zeiten im deutschen Sprachraum einer großen Beliebtheit erfreute. Die in seinem Kategorienaufsatz von 1913 entwickelten soziologischen Grundbegriffe sowie die ihnen zugrunde liegende entwicklungsgeschichtliche Betrachtungsweise stellen deshalb das eigentliche Bindeglied zwischen den einzelnen Texten aus dem Nachlaß von „Wirtschaft und Gesellschaft“ dar, auch wenn Weber dort diese Begriffe in unterschiedlichem Umfang gebraucht hat.

Die entscheidende Veränderung innerhalb der Entwicklung von Webers Beitrag zum „Grundriß der Sozialökonomik“ muß also an einer anderen Stelle gesucht werden, als dies Mommsen getan hat. Tatsächlich läßt sich der entsprechende Einschnitt im Kategorienaufsatz selbst feststellen. Denn auch dieser zerfällt in zwei unterschiedliche Teile, nämlich in einen älteren „terminologischen“ Teil, den Weber dann nachträglich im Sinne seiner „verstehenden Soziologie“ stark überarbeitet hat und in einen neueren „methodologischen“ Teil, den er an den Anfang dieses Aufsatzes gestellt hat. Faktisch beinhalten diese beiden Teile jedoch zwei verschiedene Varianten von Webers Soziologie: nämlich eine „entwicklungsgeschichtliche“ und eine „individualistische“ Variante, die bereits auf die „Soziologischen Grundbegriffe“ von 1919-1920 verweist und die in der Sekundärliteratur als „methodologischer Individualismus“ bezeichnet worden ist.

Wir müssen insofern davon ausgehen, daß jene Teile von „Wirtschaft und Gesellschaft“, die Weber im Zeitraum zwischen 1910-1914 geschrieben hat, noch nicht den Grundsätzen dieses „methodologischen Individualismus“ folgen, sondern sich am herkömmlichen Konzept der „Entwicklungsgeschichte“ orientieren. Dies scheint auch der Grund zu sein, warum Weber 1919-1920 zwar die methodologischen Überlegungen aus dem Kategorienaufsatz weitgehend unverändert übernahm, jedoch sowohl seine soziologischen Grundbegriffe vollständig neu definiert hat als auch den älteren Teil von „Wirtschaft und Gesellschaft“ zu überarbeiten begann. Das in der Sekundärliteratur schon öfter angesprochene Problem, warum sich Weber dort noch gar nicht an den Prinzipien des methodologischen Individualismus orientiert habe, läßt sich also nur im Rahmen einer werkgeschichtlichen Betrachtungsweise lösen, wie sie diesem Forschungsprojekt über die „beiden Soziologien“ Max Webers zugrunde liegt und in dem diese zentralen Unterschiede rekonstruiert werden.