Kulturkritik und Sozialkritik Die Kulturkritik und die Entstehung der deutschen Soziologie. Ferdinand Tönnies, Georg Simmel und Max Weber

von Aurélien Berlan

In der Einleitung versuche ich, (1) das Forschungsfeld, (2) die philosophische Seite, (3) die Methodik und (4) die Erkenntnisinteressen meiner Dissertation näher zu bestimmen.

1) Analysiert werden soll die klassische deutsche Soziologie in ihrem Entstehungskontext um die „Jahrhundertwende“ (1890-1914). Ideengeschichtlich kennzeichnet sich dieser Kontext durch die diffuse und heterogene Denkbewegung der „Kulturkritik“, die sich im Rahmen einer breiten und intensiven Debatte über die krisenhaften Auswirkungen der Industriellen Revolution entwickelt. Im Zentrum meiner Studie stehen die „Gründerväter der deutschen Soziologie“: Ferdinand Tönnies (1855-1936), Georg Simmel (1858-1918) und Max Weber (1864-1920), wobei Ernst Troeltsch (1865-1923), Werner Sombart (1863-1941) sowie Alfred Weber (1868-1958) auch miteinbezogen werden.

All diesen Autoren ist gemeinsam, in die Debatte ihrer Zeit um die „öffentliche Auslegung des Seins“ (Heidegger) eingreifen gewollt zu haben. Sie stützten dabei ihre Zeitdiagnose auf eine Analyse der sozio-ökonomischen und soziokulturellen Mächte, die die Entwicklung der modernen Zivilisation bestimmt haben und diese in eine eher beunruhigende Zukunft treiben. Ziel der Untersuchung ist zu verstehen, wie die ersten Soziologen in diesen Debatten Stellung bezogen haben und dafür eine neue theoretische Perspektive entwickelten, die die Unzulänglichkeiten der anderen theoretischen Ansätze der Zeit (vor allem die der Lebens- und Kulturphilosophie, der Kulturgeschichte und der Nationalökonomie) in einer neuen Synthese aufzuheben versuchte. Diese Synthese ist zwar als „soziologisch“ zu betrachten, da die soziokulturellen Probleme der Zeit mit den neuen, durch das Vordringen des Kapitalismus bedingten Formen der Sozialisierung analysiert werden. Dennoch hat sich keiner der „Gründerväter der deutschen Soziologie“ ausschließlich als „Soziologe“ betrachtet. Die Soziologie war für sie ein Mittel, um ihre Zeitdiagnose der Moderne zu formulieren. Ich werde also die ersten Soziologen nicht retrospektiv aus der Sicht der heutigen Fachdisziplin „Soziologie“ lesen, sondern aus Perspektive der Zeitdiagnose, also als Projekt einer einheitlichen Anschauung der Gegenwart und deren „sozialen Pathologien“ (Honneth).

2) Es ist an diesem Punkt, an dem die ersten deutschen Soziologen zu der philosophischen Praxis finden, die mich interessiert – diejenige, die sich seit der Aufklärung als erste Aufgabe stellt, die Gegenwart aus kritischer Position zu interpretieren. Man kann diese Praxis über den Begriff der historischen Diagnose (oder Zeitdiagnose) definieren; Diagnose aufgrund ihrer Nähe zum medizinischen Wissen; und historisch, da es Ziel ist, die Gegenwart in einer historischen Perspektive zu verorten, um ihr ihre scheinbare „Natürlichkeit“ zu entziehen. Es handelt sich um einen Modus der Erkenntnis welcher versucht, die Gegenwart in ihrer Globalität und ihrer Spezifizität zu erfassen (was ein tiefgreifendes Wissen über die Vergangenheit impliziert, mit welcher die Gegenwart verglichen wird), und die Kräfte, die diese Gegenwart dominieren und ihr eine Richtung vorschreiben zu bestimmen (was bedeutet, daß er die „Ätiologie der Gegenwart“ und die „Prognose der Zukunft“ umfaßt). Des Weiteren wird mit diesem Erkenntnismodus angestrebt, die zum jeweiligen Zeitpunkt aktuellen Evolutionen bewerten zu können. Kurz, es geht im Grunde darum, die folgende Frage beantworten zu können: In welcher Welt leben wir? Da wir integraler Teil dieser Welt sind, die uns formt, teilt sich diese Frage in drei: Wo kommen wir her? Wer sind wir? Wo gehen wir hin? Aber die Formulierung einer Zeitdiagnose bereitet zahlreiche Probleme, was Grund dafür ist, daß dieser Erkenntnismodus nirgends einen Platz im akademischen Gebäude des Wissens zu haben scheint: Er impliziert (1) die Überschreitung der bürokratischen Fragmentierung des Fachwissens und (2) die Aufgabe von der Idee einer „ewigen Wahrheit“, Ziel der philosophia perennis; (3) er bemüht sich, eine Faktizität zu analysieren, die von vorne herein von Wertungen durchzogen ist, da er als Forschungsfeld die Frage danach eröffnet, was in der aktuellen Welt „schlecht (schief) geht“; (4) schließlich hat er selbstverständlich eine politische Tragweite, da er eventuell Lösungsansätze anbietet oder zumindest implizit suggeriert.

     Mein Interesse an der deutschen Soziologie fokussiert demnach das Projekt, das diese mit anderen Philosophen teilt: Eine Diagnose der Gegenwart zu machen und genauer ihrer pathologischen Seiten, was von der deutschen Soziologie eine kritischer Reflexionsmodus macht. Ziel ist es, den genauen Ort der soziologischen Kritik im Feld der Debatten ihrer Epoche zu bestimmen, d.h. ihre Besonderheit im Bezug auf ihren theoretischen Ansatz, ihre normativen Perspektiven, den ideologischen Rahmen, in welchen sie sich einschreibt, und ihre sozio-politische Verankerung. Vier Fragen leiten diese Arbeit: Wie verstehen die Soziologen die Probleme der Moderne, deren Ursprünge und deren mögliche Lösungen? Was sind die Besonderheiten ihrer Zeitdiagnose im Vergleich mit ihren zeitgenössischen Konkurrenten? Inwiefern kennzeichnen diese Besonderheiten ihre Zeitdiagnose als „soziologisch“? Was macht die Originalität der verschiedenen Soziologen aus?

 3) Zur Beantwortung dieser Fragen stütze ich mich auf eine kontextualistische, interdisziplinäre und idealtypische Methode, welche von Michel Foucault, Quentin Skinner und Max Weber inspiriert ist. Es wird darum gehen, die „interdiskursiven Regelmäßigkeiten“ zu identifizieren, welche die Kulturkritik definieren und das soziologische Wissen, sowie die meisten Diskurse der Zeit, strukturieren. Gleichzeitig können diese aber nicht unabhängig von der Betrachtung der zeitgenössischen tiefgreifenden Transformationen der Gesellschaft verstanden werden; deswegen ist es notwendig, Elemente aus Wirtschafts-, Sozial- und Politikgeschichte zu miteinbeziehen. Um das Feld der Reaktionen auf die industrielle Moderne gegen 1900 begreifen zu können, werde ich bestimmte Aspekte der verschiedenen Diskurse selektieren, akzentuieren und in „Idealtypen“ zusammenfassen. Durch den Vergleich dieser „Utopien“ mit den einzelnen Diskursen wird es möglich sein, ihre jeweilige Spezifizität zu verdeutlichen und die Positionswechsel der verschiedenen Autoren zu begreifen. Es wird zwei Ebenen der idealtypischen Konstruktion geben: Durch ihre Gegenüberstellung mit der Gesellschaftskritik soll zunächst die Kulturkritik im allgemeinem erfaßt werden, um sie danach in ihre besondere Typen aufzuteilen (nationalistische, ästhetische Kulturkritik usw.).

4) Auf der Ebene der Ideengeschichte hoffe ich zu einem besseren Verständnis der Kulturkritik und gleichzeitig der Debatten der deutschen Intellektuellen vom Ende des 19. bis zur ersten Hälfte des 20. Jahrhundert beizutragen, die tief von jener wenig bekannten und schlecht angesehenen Denkströmung beeinflußt worden sind. Die Analyse der Unterschiede und der Ähnlichkeiten zwischen der Soziologie und anderen Formen der Kulturkritik wird die Eigentümlichkeiten der deutschen Soziologie im Bezug auf die anderen soziologischen Traditionen verdeutlichen. Es wird im besonderem gezeigt, daß die „Kritische Theorie“ der „Frankfurter Schule“ durch ihre eigentümliche Kombination von Sozialwissenschaft und Kulturkritik die klassische deutsche Soziologie verlängert. Es ist auch ein Ziel meines Projekts, eine Art „Urgeschichte der Kritischen Theorie“ zu schreiben. Diese Arbeit ist aber nicht nur durch ein rein historisches Erkenntnisinteresse geleitet: Die Kulturkritik als Reaktion auf den Kapitalismus, die sich scharf von der Gesellschaftskritik unterscheidet, ist keine spezifisch deutsche Erscheinung, die definitiv zur Vergangenheit gehört. Die historische Rückkehr zur deutschen Situation um 1900 ermöglicht, auf die heute von Boltanski und Chiapello wiederaufgenommene Frage der beiden Formen der Kapitalismuskritik ein neues Licht zu werfen, sowohl aus theoretischer als auch aus sozio-politischer Perspektive.

Die Logik dieser Studie beruht darauf, den Fokus, von einem allgemeinen Bild immer enger zu ziehen, ausgehend von dem allgemeinen Konzept der Kulturkritik und den damit verbundenen Kontroversen (Erster Teil), über die Kulturkritik der Jahrhundertwende (Zweiter Teil) hin zu der spezifischen soziologischen Kulturkritik (Dritter Teil). Hinzu kommt ein einleitendes Kapitel, in welchem der Begriff der Kulturkritik im Kontrast zur Sozialkritik definiert wird. Zum Ende des 19. Jahrhunderts hat sich in Deutschland die Kritik der industrielle Moderne in zwei entgegengesetzte Pole gespalten, wobei die Kulturkritik am industriellen Fortschritt zu einer ambivalenten Konkurrent der Sozialkritik an der kapitalistischen Gesellschaft geworden war. Die Besonderheit der Gründerväter der deutschen Soziologie liegt darin, daß sie versucht haben, diese Polarisierung zu überwinden, indem sie sich in ihre Diagnosen von der Kulturphilosophie Nietzsches und der marxschen Kritik an der politischen Ökonomie inspirieren ließen.

Einleitendes Kapitel: Gesellschaftskritik und Kulturkritik

Die Zeit vor dem ersten Weltkrieg wurde oft retrospektiv von der Bourgeoisie als die „Belle Epoque“ oder als das „Goldene Zeitalter der Sicherheit“ (Zweig) bezeichnet. Ein guter Teil des Bildungsbürgertums hat aber diese Zeit als krisenhaft empfunden. So Rudolph Eucken, der 1913 vor einer Katastrophe warnte, wenn nichts gegen die sich seit 1871 rasch verbreitende „Arbeitskultur“ und das „Vordringen der wirtschaftlichen Interessen“ gestellt werde. Dieser Populärphilosoph ist ein gutes Beispiel für die Art und Weise, wie die deutsche Intelligenz die Probleme der Industrialisierung verstanden hat. Wenn Eucken sich in seiner Jugend „an erster Stelle den großen sozialen Problemen“ widmen wollte – und damit war die Arbeiterfrage gemeint, dann hat er die sich mit der Industrierevolution stellende Fragen als die „großen Kulturprobleme der Gegenwart“ gedeutet. Damit erweitert er zwar die „Gesellschaftsfrage“, aber gleichzeitig wird diese verdrängt und sublimiert. Die deutsche Soziologie ist aus dieser Verschiebung und der davon ausgehenden Spannungen entstanden.

1. Von der „Gesellschaftsfrage“ zur „Kulturfrage“

Die Redeweise „question sociale“ ist in Frankreich gegen 1830 entstanden, um das neue Problem des Pauperismus zu bezeichnen: Ein Elend, das nicht arbeitslose Vagabunden oder unter den Konjunkturen der Natur leidende Bauer betrifft, sondern die neue Klasse der unter der strukturellen Ausbeutungslogik des Kapitalismus stehenden Industriearbeiter. Es handelt sich hier also nicht um die mehr oder weniger universelle „Armenfrage“, sondern um die moderne „Arbeiterfrage“, und diese wurde aus drei Gründen als „soziale Frage“ bezeichnet: Der Pauperismus ist ein Massenerscheinung, der mit den neuen sozialen Verhältnisse im Zusammenhang steht; er stellt die gesamte soziale Ordnung in Frage; er zeigt die Grenze der nur politischen Revolution von 1789, indem bewußt wurde, daß die formelle Anerkennung der universellen Gleichheit und Freiheit nicht notwendigerweise deren Verwirklichung zur Folge hat. Eine neue, diesmal soziale Revolution schien nun notwendig. Die soziale Frage stellt sich also an dem Schnittpunkt des Politischen und des Wirtschaftlichen.

Wenn aber Eucken die soziale Frage thematisiert, wird diese zwar mit den neuen Formen der Arbeit verbunden, aber auf eine Art und Weise, die die „Magenfrage“ der Arbeiter (Lassalle) zugunsten der des „geistigen Schicksals“ der Menschheit auslöscht. Bemerkenswert ist hier, daß Eucken die Entfremdungstheorie des jungen Marx (zuerst 1931 veröffentlicht) in alle ihren Dimensionen wiederentdeckt: Der moderne Arbeiter ist von dem Produkt seiner Arbeit, von seiner Arbeit selbst, von den anderen Menschen und von seinem Menschenwesen „entfremdet“. Auf der Basis einer ähnlichen Diagnose zieht Eucken allerdings ganz andere Schlüsse, und sogar politisch diametral entgegensetzte: Wo der junge Marx von dem Konflikt zwischen Arbeit und Kapital sprach, spricht Eucken von einem „schroffen Konflikt zwischen Arbeit und Seele“. Die soziale Frage führt nicht mehr zu einem sozio-politischen Klassenkonflikt, sondern zu einer „existentiellen“ Spannung im Menschen selbst, zwischen seinem Sinnbedürfnis und den immer sinnloseren Zwänge der modernen Arbeitswelt. Das Problem ist nicht mehr die Unterdrückung einer Klasse durch eine andere, sondern die „Unterdrückung einer Geisteskultur durch eine bloße Arbeitskultur“. Eucken kritisiert die „gewaltige Ausdehnung der modernen Industrie und Technik“ nicht im Namen des dadurch erzeugten sozialen Elends, sondern im Namen der dadurch vertieften geistigen Verödung. Hauptfeind ist nicht der Kapitalismus, sondern der flache Positivismus. Kämpfen muß man nicht um eine neue Gesellschaft, sondern um einen neuen „geistigen Lebensinhalt“ – und Eucken, der sich früher in den Dienst des Sozialismus stellen wollte, denkt nun, daß dieser nur die „Austreibung des Teufels durch Beelzebub“ bedeuten würde. Die Antwort auf die soziale Frage ist nicht mehr eine soziale Revolution, sondern eine „geistige Reformation“.

Eucken ist nicht der einzige, der die durch die Industrierevolution verursachten „sozialen Probleme“ immer mehr als „Kulturproblem“ umdeutet und so eine wirtschaftlich-politische Frage durch eine geistig-sittliche ersetzt hat. 1888 wird die „soziale Frage“ sogar als „Kulturfrage“ gedeutet. Damit entsteht zwar ein breiteres Bewußtsein der Schäden der Industrialisierung, aber dieses Bewußtsein ist auch selektiv, da es das Los der Arbeitermassen verschleiert. Daß dieses neue Bewußtsein sich durch die Ersetzung der „Gesellschaftsfrage“ durch die „Kulturfrage“ ausgedrückt hat, liegt an einer tiefgreifenden semantischen Evolution der beiden Begriffe Gesellschaft und Kultur im 19. Jahrhundert.

2. Die Entwicklung der Begriffe Gesellschaft und Kultur im 19. Jahrhundert

Ziel die Analyse ist es die Gründe zu verstehen, weswegen ein Teil der deutschen Intelligenz um 1900 sich von der gesellschaftszentrierten Semantik zugunsten einer kulturzentrierten Semantik abwandte. Meine These ist, daß der Erfolg des Kulturbegriffs um 1900 mit dem Mißtrauen der Gebildeten gegenüber dem Erfolg einer neuen Gesellschaftsordnung und des diese wiederspiegelnden neuen Gesellschaftsbegriffes zu tun hat.

Unter dem Einfluß der englischen Nationalökonomie hat Hegel im Jahr 1820 den traditionellen Begriff von „bürgerlicher Gesellschaft“ ganz neu definiert: was seit Aristoteles die politische Gemeinschaft bedeutete, bezeichnet jetzt die wirtschaftliche Sphäre des „Systems der Bedürfnisse“. Auf dieser Basis entwickeln Marx und Stein den modernen Begriff der Gesellschaft als Klassenordnung. Auf dem Hintergrund der Industrierevolution suggeriert der Begriff immer mehr einen ökonomisch-politischen Analysemodus der modernen Welt und deren Hauptstruktur, der Antagonismus der Arbeit und des Kapitals. „Gesellschaft“ wird dann das Schlagwort aller diejenigen die, als Revolutionäre wie Marx oder als Reformisten wie Stein, auf eine Lösung der sozialen Frage zielen. Das Schicksal des Begriffs geht Hand in Hand mit dem ungeheuren Aufstieg der Sozialdemokratie am Ende des 19. Jahrhunderts. Die Gesellschaft wird zum „Container-Begriff“ (Demirovic), um die ganze menschliche Welt und deren Probleme aus einer wirtschaftlich-politischen oder „materialistischen“ Perspektive zu verstehen. Der Begriff bezeichnet also weniger einen bestimmten Objektbereich als eben diesen umfassenden theoretischen Ansatz.

Man muß sich demnach nicht wundern, wenn dieser Begriff von denjenigen zurückgewiesen wird, die wie Eucken der steigenden Beteiligung der Massen an der Politik, der Entfaltung einer Profitwirtschaft und dem Sieg des Positivismus mißtrauisch gegenüberstehen. Dagegen tritt Kultur an all die Stellen, wo sonst von „sozial“ die Rede ist: die Sozialwissenschaften werden als „Kulturwissenschaften“ (Rickert) bezeichnet, Burckhardt und Lamprecht entwickeln die Zeitdiagnose-orientierte Kulturgeschichte, und es entsteht die Kulturphilosophie, die entweder auf eine Lösung der Kulturkrise durch die Formulierung einer neuen Weltanschauung, oder auf ein klares Verständnis der Kulturentwicklung zielte – so Sombart, der aber betont, daß nur der an der Nationalökonomie geschulten Soziologe „heute über Kulturprobleme reden“ kann. In dem Anspruch der Soziologie auf eine besondere zeitdiagnostische Kompetenz zeigt sich, daß sie sich auch gegen andere Fächer durchsetzen wollte, und zwar gegen die Kulturgeschichte und die Kultur- und Lebensphilosophie.

Die allgemeine Anziehungskraft des Kulturbegriff um 1900 hat insofern mit dem Schicksal des Gesellschaftsbegriffes zu tun, da der erste eine Alternative zum letzteren anbot, aber mit diametral entgegengesetzten Implikationen: Der Kulturbegriff ist auch ein „Container-Begriff“, aber er faßt die Menschenwelt nicht aus derselben „materialistischen“ Perspektive. Er betont die geistige Seite des Menschenlebens, und ist weniger an der Frage nach der sozialen Beziehungen orientiert als an der, der subjektiven Innerlichkeit. Er unterstreicht die Einheit und die Besonderheit der Nation im Gegensatz zu Gesellschaftskonzeptionen, bei welchen der Klassenantagonismus innerhalb der Nation und übernationale Dynamiken im Vordergrund stehen. Der Kulturbegriff wurde aber auch inflationär verwendet, weil er widersprüchliche semantische Traditionen verstrickt: Kurz gesagt bezeichnet Kultur um 1900 sowohl den Prozeß des Fortschritts (wobei Kultur und Zivilisation synonym sind) als auch (in Verbindung mit dem Bildungsbegriff) einen Wertkomplex, den man gegen Zivilisation, Gesellschaft und Fortschritt erhoben hat. So ist der Begriff „Kulturkritik“ entstanden. Er wurde zuerst von Max Weber im 1905 privat gebraucht: Lamprecht sei ein „Scharlatan schlimmster Art, soweit er als Culturkritiker und Culturhistoriker auftritt“. Und die „Kulturkritik des Jahrhundert-Endes“ wurde dann 1913 von Troeltsch konzeptualisiert, um die Reaktion gegen das „demokratisch-kapitalistisch-imperialistisch-technische Jahrhundert“ zu bezeichnen, die (so Troeltsch) den Geist des 19. Jahrhunderts am besten ausdrückt.

3. Gesellschaftskritik und Kulturkritik

Die Kulturkritik bezeichnet ein kritisches Denken über die moderne Kultur, das sich zu einer sowohl gegen Industrialismus als auch gegen Sozialismus gerichteten Oppositionsbewegung entwickelt. Sie greift die Industrierevolution in allen ihren technischen und ökonomischen, politischen und soziokulturellen Dimensionen und Auswirkungen an (vgl. Kap. 5). Sie fällt aber nicht mit der Gesellschaftskritik zusammen und tritt sogar teilweise in Opposition zu dieser von der Sozialdemokratie getragenen Kapitalismuskritik, da sie immer eine Kritik der demokratischen und/oder sozialistischen Förderungen beinhaltet. In diesem Sinn entwickelt sich die Kulturkritik nach der Reichsgründung und beherrscht die gebildete Welt um 1900. Um sie besser zu verstehen, kann man sie mit der Gesellschaftskritik vergleichen.

Theoretisch gesehen ist die Kulturkritik eher „idealistisch“, die Gesellschaftskritik eher „materialistisch“ – oder, weniger ambivalent gesprochen: Der bevorzugte Objektbereich der Gesellschaftskritik ist die wirtschaftliche Entwicklung, derjenige der Kulturkritik, die kulturelle Evolution der Weltvorstellungen und der sittlichen Dispositionen.

Normativ gesehen denunziert die Gesellschaftskritik die von der Gesellschaftsstruktur verursachten Ungerechtigkeiten und stützt sich auf soziopolitische Werte. Die Kulturkritik spricht eher die Sprache der mit den modernen Lebensformen zusammenhängenden Pathologien, und stützt sich mehr auf ethische, ästhetische oder existentialistische Werte, die weniger auf die Struktur der sozialen Verhältnisse als auf das Individuum verweisen. Genauer stellt sie die Frage nach den „anthropologischen“ Auswirkungen der modernen Entwicklung, nach den von der modernen Welt begünstigten „Menschentypen“.

Weltanschaulich gesehen verankert sich die Sozialkritik in dem Fortschrittsparadigma und bezieht sich positiv auf Rationalismus, Wissenschaft, Technik und Zukunft. Die Kulturkritik wächst im gleichen Masse, wie der Fortschrittsglauben abnimmt und sich eine gegen die Aufklärung gewandte Lebensphilosophie, eine nostalgisch auf die „gute alte Welt“ orientierte Neuromantik und eine ästhetische Weltanschauung entwickelt. Während die erste die Produktionsverhältnisse kritisiert, denunziert letztere die modernistische Ideologie, die Entwicklung der Produktivkräfte (Technik und Wissenschaft) und deren destruktive Folgen. Aus dieser Perspektive ist die erste eine fortschrittliche Kritik der kapitalistischen Gesellschaft, die andere eine konservative Züge tragende Kritik des Industriefortschritts.

Sozio-politisch ist die Kulturkritik in dem Teil des Bildungsbürgertums verankert, der sein Schicksal nicht mit dem des „Proletariats“ verbinden wollte. Sie stellt sich aber oft als apolitisch und sogar als antipolitisch dar und bildet eher eine metapolitische Denkbewegung, die bis in die anarchistische Extrem-Linke (Landauer) hinein reicht. Sie beinhaltet auch eine Kritik der klassischen bürgerlichen Kultur und ist insofern ein „antibürgerlicher Aufstand der Bourgeoisie“ (vgl. Kap. 6). Im Hinblick auf den Kapitalismus erscheint sie manchmal radikaler und umfassender als die Gesellschaftskritik. Trotzdem ist die unterschiedliche sozio-politische Verankerung der beiden Kritiktypen unverkennbar an den eingesetzten Affekten zu messen: die Gesellschaftskritik verankert sich in der Indignation und dem Zorn über die Ungerechtigkeiten, die Kulturkritik spielt im Gegenteil mit Nostalgie, Unruhe und Langeweile und ist Ausdruck des „Unbehagens an der Moderne“.

Diese idealtypische Unterscheidung bildet eine dynamische Polarität zwischen zwei möglichen und eventuell komplementären Sichtweisen auf den Wandel der modernen Welt und ist insofern als Spannungsfeld präsent in allen kritischen Diskursen. Diese Spannungen zeigen sich in den Biographien der Autoren, die von Schwankungen zwischen den beiden Polen bis hin zur kompletten Abwendung von einer zur anderen aufweisen. Sogar Marx und Nietzsche, die jeder mit einem Pol identifiziert werden können, sind davon betroffen.

4. Marx und Nietzsche

In seinen Hauptlinien stimmt das marxsche Denken mit dem Modell der Sozialkritik überein. Es gibt zwar kulturkritische Elemente in seiner Entfremdungskritik von 1844. Sie werden aber mit dem Wandel von dieser vorwiegend philosophischen Entfremdungstheorie zur einer vorwiegend ökonomischen Ausbeutungstheorie beiseite geschoben, wobei diese nicht so sehr auf einer Gerechtigkeitstheorie als auf einem Ideal des ganzen Menschen gegründet ist, das auch das normative Substrat der früheren Entfremdungskritik war. Wichtig ist aber, daß jede Kritik der Entwicklung der Produktivkräfte als solche nun ausgeschlossen ist. Trotz deren direkten negativen Auswirkungen verteidigt Marx diesen Fortschrittsprozeß, der dialektisch zur Emanzipation führen soll, wobei nicht klar ist, wie ein auf Industrie aufgebauter Kommunismus alle Schäden der modernen Arbeitsteilung beseitigen könnte. Marx wird aber seinen Modernismus am Ende seines Lebens moderieren: Nun bewertet er bestimmte Aspekte der vorkapitalistischen Lebensformen positiver und behauptet nicht mehr, der Kapitalismus sei eine notwendige Stufe auf dem Weg zum Sozialimus. Insgesamt ist also eine reine Sozialkritik eher bei dem Teil seiner Nachfolger zu suchen, der seine Entfremdungsproblematik ganz beiseite gelassen und seinen Evolutionismus verstärkt habe.

Die Philosophie von Nietzsche ist eine „Kritik der Moderne“ in allen ihren Dimensionen, wobei die ökonomische Moderne eher unberücksichtigt bleibt. Nietzsche definiert sein Erkenntnisinteresse wie folgt: „An Stelle der „Gesellschaft“, der Cultur-Complex als mein Vorzugs-Interesse“. Kultur bedeutet hier zwar die Sphäre der Kunst, Religion, Sitten, Philosophie und Moralen, muß aber eher als eine bestimmte Perspektive auf die gesamte Welt gedeutet werden, da Nietzsche sich auch für alle „nächsten und kleinsten Dinge[...]“ interessierte, die wie Klima, Ernährung oder Umwelt die Lebensführung der Einzelnen, die Selektion von bestimmten Dispositionen und damit die Züchtung von bestimmten Menschentypen beeinflussen. Seine Philosophie ist auch typisch kulturkritisch, weil sie in einer Diagnose der rationalistischen Moderne als „décadence“ verankert ist, ein Heilmittel mit der von Zarathustra gepredigten neuen Lehre des Übermenschen anbietet und vehement die sozialdemokratischen Gerechtigkeitsförderungen als pathologisch kritisiert. Die Sozialkritik wird bei ihm als Symptom des Nihilismus entlarvt. Außerdem trägt seine genealogisch verfahrende Kulturanalyse genuin anti-soziologische Züge. Die Ideen von Nietzsche haben sich aber teilweise verändert: Die Übergangsphase zwischen seiner frühen und seiner späten Kulturkritik kann man als weniger anti-aufklärerisch und anti-demokratisch bezeichnen, und insofern auch als eine Milderung des kulturkritischen Grundtons seines Denkens.

 Wichtig ist hier zu bemerken, daß die eher von den radikalen und alternativen Milieus getragene Rezeption Nietzsches um 1890 mit einer starken Entwicklung der Kulturkritik zusammenfällt, wobei jene weniger eine Ursache als ein Symptom der letzteren ist. Gleichzeitig ist Marx auch außerhalb der sozialdemokratischen Bewegung stark rezipiert worden, und zwar vor allem von den frühen deutschen Soziologen. Marx und Nietzsche haben die soziologische Debatte um der Moderne gegen 1900 stark beeinflußt: So Max Weber, wir leben geistig in einer zum großen Teil von Marx und Nietzsche geprägten Welt.

5. Die Eigentümlichkeiten der deutschen Soziologie (1)

Die deutsche Soziologie zeigt eine gewisse Nähe zu dem ihr zeitgenössischen kulturkritischen Diskurs, vor allem durch ihre Infragestellung des Fortschritts, der nicht als glückliche Verwirklichung der Vernunft, sondern als tragische Verdinglichung des Verstandes gedeutet wird. Man kann sie aber nicht ohne weiteres unter die Kategorie „Kulturkritik“ subsumieren, weil die Kulturkritik eine gegen die Wissenschaft im allgemeinen und die Soziologie im besonderen gerichtete Denkströmung war. Die zu jener Zeit, von Comte, Mill und Spencer vertretene Soziologie wurde sowohl wissenschaftlich als auch politisch wegen ihrer naturalistischen und sozialistischen Züge kritisiert. Die von einem so feindlichen Kontext ausgeübten Zwänge erklären teilweise die Eigentümlichkeiten der deutschen Soziologie im Bezug auf andere soziologische Traditionen: 1) unter dem Einfluß von Dilthey und Rickert verabschiedet sie sich allmählich von dem Naturalismus – so ist die verstehende Soziologie Max Webers keine „physique sociale“ (Comte), sondern eher eine „Kulturhermeneutik“; 2) sie verzichtet auch allmählich auf evolutionistische und holistische Ansätze – die Mikroanalyse des sozialen Handelns ersetzt die Suche nach den Gesetzen der Geschichte; 3) der Gesellschaftsbegriff verliert die zentrale und grundlegende Funktion, die er sonst oft spielt – so kommt man zu einer „Soziologie ohne Gesellschaft“, die außerdem den Kulturbegriff nach vorn rückt. So ist Tönnies‘ Gemeinschaft und Gesellschaft als „Theorem der Kulturphilosophie“ entstanden. In der Philosophie des Geldes skizziert Simmel seinerseits eine „Metatheorie des Sozialen“ (Lichtblau), die auch die Basis einer allgemeinen Kulturtheorie herausbildet. Webers Erkenntnisinteresse richtet sich vor allem auf die „Kulturbedeutung des Kapitalismus“.

Eine letzte Eigentümlichkeit der deutschen Soziologie läßt auch ihre Originalität im Feld der deutschen Kulturkritik erkennen: Sie ist aus einer tiefen Auseinandersetzung mit der marxschen Kritik der politischen Ökonomie entstanden. Wenn sie eine Kulturkritik anbietet, ist diese also auf eine sozio-ökonomische Analyse der Moderne gegründet, die die marxsche Analyse der sozialen Folgen der kapitalistischen Entwicklung auf dem Bereich der Kultur erweitert. So werden die Hauptdefizite der beiden Kritiktypen aufgehoben: auf der einen Seite ist die kulturkritische Soziologie nicht so „idealistisch“ und „antirationalistisch“ wie die meistens üblichen kulturkritischen Diskurse um 1900; auf der anderen Seite ist sie aber sensibel für die Aporien und die Sackgasse des Fortschritts und sprengt auch die engführende „materialistische“ Geschichtsmetaphysik des Marxismus. Diese Mischung von Sozialkritik und Kulturkritik wird aber jeweils auf eine andere Art und Weise von den unterschiedlichen Soziologen gemacht und führt zu erheblichen Spannungen in ihrem Denken, wie die Analyse ihrer jeweiligen Beziehungen zu Marx und Nietzsche es bezeugt.

6. Zwischen Marx und Nietzsche, die Gründerväter der deutschen Soziologie

Obgleich der junge Tönnies Nietzsche mit Begeisterung gelesen hat, ist er schnell einer der schärfsten Nietzsche-Kritiker des Kaiserreichs geworden, wobei er vor allem seine aristokratischen Werte und seine idealistische Auffassung der Kulturgeschichte kritisierte. Tönnies war eher von Marx beeinflußt, teilte aber nicht seinen Fortschrittsenthusiasmus. Simmel ist umgekehrt von einer positivistischen Haltung zu einem stark von Nietzsche geprägten lebensphilosophischen und ästhetischen Weltbild gekommen. Er hat die materialistische Geschichtsauffassung sowohl kritisiert als auch in der Philosophie des Geldes kulturphilosophisch erweitert, wo er Nietzsches Diagnose des Nihilismus und des Machtverlustes des Individuums auf eine sozio-ökonomische Weise neu begründet. Max Weber ist weder von Nietzsche zu Marx gegangen, noch umgekehrt. Wenn er mit Nietzsche einen bestimmten ethischen Pathos, ein starkes Interesse an der Macht der Ideen und an deren anthropologischen Effekten teilt, hat er sein Werk eher im Dialog mit Marx entwickelt. Er wollte eine „positive Kritik“ des Materialismus anbieten, sowohl auf der theoretischen (durch die Erforschung des Einflusses der Religion auf den wirtschaftlichen Praktiken) als auch auf der praktischen Ebene (durch seine Analyse der technikbedingten Bürokratisierung der Welt).

erster Teil: Ein schlechter Ruf

Der Begriff „Kulturkritik“ ist überladen von verschiedenen Bedeutungen. Seine Benutzung ist ebenso mehrdeutig wie polemisch. Denn während es nicht immer sehr klar ist, was er bezeichnet, ist im Gegenzug klar, daß die Bedeutungen, die mitschwingen, oft negativ sind. Dieser schlechte Ruf ist mit der negativen Rezeption verbunden, die die Kulturkritik seit einem halben Jahrhundert erfahren hat. Da diese Rezeption für das Phänomen konstitutiv ist, müssen einige Elemente der Geschichte des Terminus nachgezeichnet werden[1]. Nachdem die verschiedenen Benutzungen des Begriffs geklärt werden und eine Definition vorgeschlagen wird (Kap. 1), wird die Kulturkritik in die zwei folgenden Kapitel von außen betrachtet, auf Basis der anderen Positionen, die innerhalb der Kontroversen um den Wert des Fortschritts verteidigt worden sind, was ermöglichen soll zu verstehen, warum die kulturkritische Theorietradition so oft mit dem Vorfaschismus der „Konservativen Revolution“ (Kap. 2), aber auch mit dem westlichen Marxismus der „Kritischen Theorie“ verbunden wird (Kap. 3).

Kapitel 1: Die Kulturkritik, ein mehrdeutiger und polemischer Begriff

Auch wenn der Begriff der Kulturkritik oft genutzt wird, ist er meistens weder definiert noch überhaupt erläutert. Dennoch ist er weit davon entfernt „klar und deutlich“ zu sein. Faktisch wird der Begriff genutzt um Diskurse aller Arten und Herkünfte darunter zu subsumieren. Die Suche nach Kriterien um das Feld der darunter zusammengefaßten Diskurse zu begrenzen, hat etwas hoffnungsloses: Jeder Versuch, das Überangebot an Zuschreibungen zu entwirren, ist durch eine Benutzung widerlegt. Es ist dennoch möglich die verschiedenen Sprachgebräuche zu ordnen, indem man die analytische von der historischen Nutzungen trennt.

1. Die drei analytischen Sprachgebräuche der Kulturkritik

Versteht man die Kulturkritik auf analytische Art und Weise, bezeichnet der Begriff dreierlei Diskurse. Im §22 von Minima Moralia, benutzt Adorno ihn um die Desmystifizierung der Idee der Kultur zu bezeichnen, d.h. die Infragestellung der idealistischen Konzeption nach welcher die Kultur eine autonome Sphäre sei und nicht, wie dies andere Philosophen vermuteten, eine der Wirtschaft unterworfene Sphäre (Marx), ein Ausdruck des Willens zur Macht (Nietzsche) oder eine Form der Sublimierung der Instinkte (Freud). Neben dieser seltenen Nutzung, findet sich eine spezialisierte: In einigen Hochschulen, wird der Begriff der Kulturkritik heute benutzt um bestimmte Kurse oder einen Studiengang zu bezeichnen, welcher auf die Produktion von Diskurses über Kunstwerke vorbereitet, wie die Kunstkritik oder der auf das kulturelle Leben spezialisierte Journalismus. Ein noch gängigerer Sprachgebrauch definiert die Kulturkritik als Infragestellung der gegenwärtigen Kultur; so Herbert Schnädelbach, geht die Kulturkritik zurück auf die antike Unterscheidung zwischen Kultur und Natur, welche es den Menschen erlaubt habe, zu verstehen, daß ihre Welt eine sozial konstruierte Sphäre ist, die hinterfragt werden kann.

2. Die Kritik in der historischen Diagnose

Die drei analytischen Sprachgebräuche referieren nicht auf das gleiche Konzept von Kritik, besser gesagt, auf das gleiche Moment des Konzeptes von Kritik. In dem dritten Sprachgebrauch, welcher die Problematik der Zeitdiagnose berührt, bezeichnet die Kritik einen Prozeß durch welchen das Subjekt, in dem Bewußtsein, daß die Welt um es herum problematisch ist, diese Welt analysiert und deren negativen Aspekte denunziert. Die Kritik artikuliert hier drei Momente, die kognitive Untersuchung (auf welche sich die Desmystifizierung der Idee der Kultur konzentriert), das Werturteil (Moment, der zur kritischen Analyse der Werke hinzukommt) und die praktische Überwindung (welche nur der dritte Sprachgebrauch eventuell beinhaltet). In diesem Sinn setzt aber die Kritik die Konstitution der Welt als Problem voraus. Diese verwirklicht sich durch die negative Wahrnehmung der Gegenwart, d. h. über das Medium der Sensibilität, welche eine „Basis“ konstituiert, von welcher der Prozeß der Kritik ausgeht. Denn die Kritik ist nicht auf diese erste auf Gefühlen aufbauende Wertung zu reduzieren: Sie impliziert die reflexive Wiederaufnahme dieser erste Wertung. Man kann also die Kritik in der Zeitdiagnose, durch den Übergang von einer empfindlichen Wertung hin zu einer reflexiven Wertung zu definieren. Wenn die Kulturkritik einen so schlechten Ruf hat, dann ist das, weil sie nicht immer die Kritik in allen Dimensionen ihres Konzeptes entwickelt und oft in ein Lamento verfällt, welches vor allem (allerdings nicht immer ausschließlich) den Moment der geschockten Sensibilität hinsichtlich der Entwicklung der Welt ausdrückt.

3. Die Kulturkritik als historische Kategorie: Die Infragestellung des Fortschritts

Der Begriff der Kulturkritik bezeichnet meistens eine historisch determinierte Kritik der Kultur der Gegenwart: Es ist die romantische und neoromantische Kritik der modernen Zivilisation. So wie die Romantik als eine „autocritique de la modernité“ (Löwy und Sayre) gelesen werden kann, muß die Kulturkritik mit Georg Bollenbeck als „Reflexionsmodus der Moderne“ verstanden werden, im doppelten Sinn: Sie ist eine Form der Reflexion, die aus der Moderne entsteht, weil ihr zentrales Objekt die Modernität selbst ist, d.h. sie bezieht sich auf das, was den Kulturkritiker als spezifisch Neues erscheint. Bollenbeck kommt das Verdienst zu, die historische Spezifizität der Kulturkritik verstehen zu haben. Wenn er dabei die Bedeutung der Thematik des Niedergangs und der Dekadenz bemerkt, insistiert er gleichzeitig auf dem, was sie von den antiken Mythen des Goldenen Zeitalters unterscheidet: Sie setzt voraus ein historisches Bewußtsein, das die Summe der privaten Geschichten in der singuläre-kollektive Geschichte zusammenfaßt. Es ist also nicht zutreffend, die Kulturkritik auf die Antike zurückzudatieren, in welcher genau dieses für die Modernität konstitutive historische Bewußtsein fehlte. Entgegen eines analytischen Konzeptes, welches dazu tendiert sich mit dem der Sittenkritik zu vermischen (vgl. dritter Sprachgebrauch), verbindet Bollenbeck die Kulturkritik mit der Aufklärung und der Entstehung einer neuen Öffentlichkeit.

In dem Versuch die Kulturkritik besser zu fassen, ist es nun möglich, einen Schritt weiter als Bollenbeck zu gehen: Es handelt sich immer um „Reflexionen in der veränderten Welt“ (Konersmann). Da die moderne Veränderungen von dem „Fortschritt“ getragen sind und sich in dieser Leitidee zusammenfassen lassen, designiert die Kulturkritik im Wesentlichen die Infragestellung des Fortschritts, d.h. der Entwicklung der modernen Zivilisation, welche auf dem Kapitalismus, der Wissenschaft und der Technik gegründet ist. Das ist es, was ein schematischer Vergleich zwischen der „Philosophie des Fortschritts“ und der Kulturkritik zeigt: Wenn die erste die Wissenschaft gegenüber der Religion, die nützlichen Techniken und den liberalen Individualismus aufwertet, bezieht die Kulturkritik systematisch Stellung gegen eben jene rationalistische und utilitaristische Philosophie. Auf eine Art und Weise, die oftmals mehr polemisch als durchdacht erscheint, zweifelt die Kulturkritik den Wahrheitsanspruch der mechanistischen Wissenschaften an, sie lehnt die Vision des Menschen ab, die von der Philosophie des Fortschritts postuliert wird (als individuum rationale), und denunziert deren lineare und optimistische Geschichtskonzeption.

Als Widerstand gegen den Komplex der Ideen und Realitäten, die mit dem Begriff des Fortschritts assoziiert sind, drückt sich die Kulturkritik in verschiedenen Formen aus. Es gibt vier Arten von Texten: 1) Die rein polemischen Pamphlete, 2) die auf die Analyse der Gegenwart gerichteten Essays 3) die Texte, die nicht auf die Analyse der Gegenwart zentriert sind, aber für welche das Bestreben konstitutiv ist, die Ursachen für die gegenwärtige Situation zu finden oder eine „Therapie“ zu suggerieren, 4) die Abhandlungen, die kulturkritische Aspekte präsentieren, die aber weder auf die Analyse der gegenwärtigen Mißstände gerichtet sind, noch ausschließlich oder hauptsächlich von dem Willen motiviert sind, Gründe oder Heilungsmethoden für diese zu finden.

Auch wenn sie formell als Art der Zeitdiagnose, historisch als Verlängerung der Romantik und substantiell als Fortschrittskritik bezeichnen werden kann, bleibt die Kulturkritik in diesem Stadium meiner Analyse ein breites Konzept, unter welches die verschiedensten Diskurse subsumiert werden können, von Rousseau, dem „Vater der modernen Kulturkritik“, bis zum „romantisch-anarchistischen Flügel der Protestbewegung der Jahre 1960-1970“ (Frithjof Rodi). Ich schlage vor, die Kulturkritik im weiten historischen Sinn (von der Aufklärung bis heute) von der Kulturkritik im engeren Sinn, definiert als Infragestellung des Fortschritts, der sich im deutschsprachigen Raum von 1870 bis zum Ersten Weltkrieg entwickelt, zu unterscheiden. Vier Argumente stützen diese Art und Weise, den Begriff zu begrenzen. Erstens entspricht sie der historischen Herkunft des Begriffs: Er erscheint zum ersten Mal 1905 in einem Brief von Max Weber, und er wird durch Ernst Troeltsch in einem Text von 1913 theoretisiert, wo die Kulturkritik vom Ende des Jahrhunderts als neue Form des modernen Geistes präsentiert wird. Zweitens beginnt der Erfolg des Genres der Zeitdiagnose eben zur Jahrhundertwende. Drittens ist es erst seit diesem Zeitpunkt, daß die Fortschrittskritik die Dimension einer sozialen Bewegung annimmt.

Last but not least: Diese Art und Weise die Kulturkritik der Jahrhundertwende zu begrenzen, rechtfertigt sich zudem durch die Zurkenntnisnahme der spezifischen Merkmale der Infragestellung des Fortschritts um 1900, im Gegensatz zu der des 18. und des 20. Jahrhunderts. Die Kulturkritik von 1900 ist tendenziell eine „reine“ Kulturkritik der modernen Pathologien, die sich kaum oder gar nicht mit der sozialen Kritik der Ungerechtigkeiten artikuliert, und sogar dazu tendiert, letztere als „pathologisch“ aufzufassen. Während die Kulturkritik des 18. Jahrhunderts eher universalistisch und rationalistisch war, ist die von 1900 lebensphilosophisch. Sie ist des Weiteren charakterisiert durch eine spezifisch deutsche Semantik, die die Kultur als Mittel der zweckfreien Bildung auffaßt und der Zivilisation entgegenstellt. Schließlich erhält sie ihre Einzigartigkeit durch eine ambivalente politische Positionierung, für welche der Werdegang und das Werk Thomas Manns exemplarisch sind: Von einer vehemente Ablehnung der okzidentalen Zivilisation in seinen Betrachtungen eines Unpolitischen, kam dieser zu einer gemäßigten Zustimmung der rationalistischen und demokratischen Prinzipien. Im Zauberberg zeigt er die Zerrissenheit eines Deutschlandes, herausgefordert durch eine Opposition gegen den Fortschritt, die das doppelte Gesicht der vorfaschistischen Zeit und des Urkommunismus trägt. Mit ihm versteht man, daß die Kulturkritik von 1900 apolitisch sein will und sich als metapolitisch offenbart, wie es die Tatsache zeigt, daß sie sich nach dem Ersten Weltkrieg in zwei Richtungen entwickelt: Die vorfaschistische der Konservativen Revolution und die marxistische der Kritischen Theorie.

Kap. 2: Die Kulturkritik, eine vorfaschistische Ideologie ?

Der schlechte Ruf der Kulturkritik kommt nicht von ungefähr. Die Feindlichkeit gegenüber der Moderne hat oft den Weg des Antisemitismus eingeschlagen. Um 1900 entwickelt sich in Deutschland eine nationalistische Kulturkritik, welche die Vorwürfe verständlich macht, die der Kulturkritik oft gemacht werden: Es handelt sich um ein rein polemisches Lamento, in welchem sich desorientierte Gefühle entladen. Die Rezeption der Kulturkritik seit 1945 bezieht sich vor allem auf diesem Phänomen. Ein gutes Beispiel dafür ist das klassische Werk Fritz Sterns, The Politics of Cultural Despair, das sich als a study in the pathology of cultural criticism darstellt, während es eigentlich eine Studie der völkischen Ideologie ist. Ich möchte hier die Argumentation Sterns rekonstruieren, um deren Unzulänglichkeiten zu verdeutlichen.

1. Drei Prediger des Nationalismus im deutschen Kaiserreich

Stern gründet seine Argumentation auf der detaillierten Analyse von drei einflußreichen Autoren im kaiserlichen Deutschland: Paul de Lagarde, Julius Langbehn und Arthur Moeller van den Bruck. Indem ich ihr Portrait nachzeichne, habe ich stärker als Stern auf die Unterschieden zwischen den drei Essayisten bestanden: Lagarde ist ein Akademiker, der im extremen Nationalismus eine Ersatzreligion gefunden hat, Langbehn ist ein Außenseiter, angezogen von der Bohème und der ästhetischen Lebensreform, Moeller ist ein revoltierter Ästhet, der Stück für Stück zum reaktionären Modernismus konvertiert ist.

2. Simplifizierungen und Vermischungen

Wenn das Werk Sterns eine gute Einführung für die drei genannten Autoren darstellt, muß man daran zweifeln, daß das auch für die Kulturkritik der Fall ist. Aus dieser Perspektive ist es sehr problematisch: Stern nimmt eine Reihe von Vermischungen zwischen Strömungen und historischen Phänomenen vor, die sich zwar überschneiden, ohne allerdings deckungsgleich zu sein (Kulturkritik, völkische Ideologie, Konservative Revolution etc.). Die erste Abweichung von Stern besteht darin, von den drei Autoren in unverhältnismäßiger Weise auf die Kulturkritik zu generalisieren, d.h. die Kulturkritik mit der völkischen Ideologie zu assimilieren: Aber, auch wenn es diesen drei Autoren gemeinsam ist ultranationalistisch zu sein, waren zahlreiche Kulturkritiker dies nicht. Der zweite Fehler Sterns ist, daß er die Weimarsche Ideologie der Konservativen Revolution auf die Kulturkritik von 1900 projiziert: Die Konservative Revolution (für welche nur Moeller ein Beispiel ist) war aber eine aktivistischere und politisiertere Strömung als die Kulturkritik, und sie verzichtete zudem auf die Kritik des industriellen Fortschritts, da sie hoffte diesen gegen den demokratischen Fortschritt einsetzen zu können. Die dritte Unzulänglichkeit von Stern ist versucht zu haben, die Kulturkritik zu „psychiatrisieren“, indem er sie mit dem Kulturpessimismus assimiliert: Anstatt eine immanente Kritik an den von den Nationalisten vertretenen Ideen zu üben, will er zeigen, daß sie neurotisch und paranoid sind.

3. Historische Vergleiche: Ökologie, Ludditen und Populismus

Wenn Stern die Kulturkritik auf ihren nationalistischen Ausläufer reduziert, will er damit die Kulturkritik im Allgemeinen diskreditieren. Daß dies sein Ansatz ist, manifestiert sich in den wenigen historischen Vergleichen, die er zwischen der deutschen Kulturkritik der Jahrhundertwende, der Öko-Bewegung im Deutschland der 1980er Jahre, den englischen Ludditen (Maschinenstürmerbewegung) der 1820er und den amerikanischen Populisten von 1890 zieht. Aber wer könnte sagen, daß die ökologische Kritik der industriellen Moderne nur ein Ausdruck von paranoiden Individuen ist? Wenn Stern diese Vergleiche ein wenig weiter getrieben hätte, hätte er sehen müssen, was die deutsche Kulturkritik auszeichnet: Im Gegensatz zu den Maschinenstürmern und den Populisten, hatte sie eine wesentlich weniger politische und demokratische Dimension und befand sich damit in „objektiver Übereinstimmung“ mit den imperialistischen Forderungen des industriellen Kapitalismus (Lukacs), die sie an anderer Stelle zu denunzieren versuchte.

4. Die Unzulänglichkeiten der großen Erzählung der Modernität

Die Unzulänglichkeiten von Stern beruhen darauf, daß er seinen Ansatz in den Rahmen der „großen Erzählung der Moderne“ als kontinuierlicher Fortschritt der Emanzipation einschreibt. Das Gegenstück ist eine andere Erzählung, die der Genese des Nationalsozialismus: Einmal als antimoderne Bewegung definiert, kann man ihre Wurzeln in all dem suchen, was mit einer Kritik an der Moderne assimiliert werden kann, und diese Kritik als „faschistisch“ anprangern. Die Romantik der Kulturkritik wird dadurch zur Quelle des Totalitarismus der Nazis. Das ist die These von der Kontinuität zwischen 1800 (die Romantik), 1890 (die Kulturkritik), den „Ideen von 1914“ und 1933. Diese Sichtweise ist zu reduzierend, um glaubwürdig zu sein: Auf der einen Seite stand das Naziregime, das feindlich gegenüber der demokratischen Modernisierung war, aber in allen anderen Bereichen an der Spitze der Modernität (faktisch muß von einem „reaktionären Modernismus“ geredet werden); auf der anderen Seite ist die Romantik, auch wenn sie die Industrie- und Staatsmoderne kritisierte, eine Säule des modernen Bewußtseins. Folglich greift Stern auf ein simplifiziertes Konzept der Moderne zurück, anstatt zu verstehen, daß es verschiedene Moderne gibt, die vielleicht sogar nicht kompatibel miteinander sind.

5. Die Widersprüche der spezifisch nationalistischen Kulturkritik

Wenn man zur Kenntnis nimmt, daß die Kulturkritik und der Ultranationalismus im selben historischen Zeitraum entstanden, ist es kaum verwunderlich, daß sich ihre Wege kreuzten. Das ist kein Grund um sie miteinander zu assimilieren. Um angesichts komplexer historischer Phänomene, der effektiven Verwirrung keine theoretische hinzuzufügen, ist das einzige Mittel, sie einer Analyse zu unterziehen, d.h. die verschiedenen Aspekte des Phänomens zu unterscheiden und Idealtypen im Sinne Max Webers zu konstruieren. Stern hat nicht auf diese Methode zurückgegriffen, was ihm erlaubt hätte die verschiedenen Typen der Kulturkritik zu differenzieren und einen Idealtyp der nationalistischen Kulturkritik zu konstruieren, deren zentrale Idee der Gedanke ist, daß die Übel der Gegenwart von außerhalb der Nation herrühren. In dem Maße in dem sie der imperialistischen Politik förderlich ist, die nur auf Basis der Modernisierung der Nation möglich ist, ist diese Kulturkritik faktisch widersprüchlich. Aus dieser Perspektive ist Moeller tatsächlich der kohärenteste der von Stern ausgewählten Autoren, da er aufgrund seines Nationalismus auf alle Kulturkritik an der industriellen Moderne verzichtet.

Kap. 3 : Kulturkritik und Kritische Theorie

In dem Maße, in dem die Kritische Theorie eine Verlängerung der ersten deutschen Soziologie darstellt, müßte sie in ihrer Abfolge analysiert werden. Daß ich sie davor anspreche, hat zwei Gründe. Auf der einen Seite haben die Analysen von Adorno eine wichtige Rolle für die Konstitution des Begriffs der Kulturkritik gespielt. Auf der anderen Seite ist die Kritische Theorie eng mit diesem Phänomen verbunden: sie stellt ihren interessantesten „linken Flügel“ dar. Unter dem Einfluß der Philosophen und Soziologen, die als Kulturkritiker gelten, hat die Kritische Theorie den historischen Materialismus vom Ökonomismus und die Linke vom naiven Fortschrittsglauben befreit. Wie der junge Lukács, stellt sie die Verbindung zwischen Marxismus und Kulturkritik dar. Weit davon entfernt, sich nur gegen die Ungerechtigkeiten zu wenden, ist sie auch sensibel für die pathologischen Aspekte der modernen Zivilisation und macht sich keine Illusionen mehr über die emanzipatorische Rolle der modernen Wissenschaften und Techniken. Wenn die Kritische Theorie sich in die Tradition des historischen Materialismus einordnet, erweitert sie ihn um die kulturelle Sphäre, auf welche sie sich konzentriert, ohne zu leugnen, daß die moderne Welt von Kapital regiert wird.

Wenn die Kritische Theorie Sozialkritik und Kulturkritik artikuliert, die Gewichtung dieser zwei Dimensionen ist nicht gleich geblieben. Ursprünglich schreibt sie sich vor allem in die Tradition der Fortschrittsphilosophie ein; die positive Wissenschaft wird nicht verabschiedet, sondern komplettiert. Aber diese Gewichtung kippt mit der dramatischen Wende, die die Geschichte zwischen 1930 und 1940 nimmt. Die Nähe zur Kulturkritik wird immer stärker: Die Wissenschaftskritik radikalisiert sich zu einer Kritik an der identifizierenden Gewalt des Begriffes; das Zukunftsprojekt wird nicht mehr als Unterwerfung der Natur formuliert, sondern als Versöhnung mit jener; der technische Fortschritt ist nicht mehr ausschließlich als neutral oder positiv gewertet. Die Kritik ist umfassender und radikaler und geht über die kapitalistische Gesellschaft hinaus: Es ist die Zivilisation selbst, die Aufklärung und die instrumentelle Rationalität, die in der Dialektik der Aufklärung angegriffen werden.

  1. Die Gründung der Kritischen Theorie in Abgrenzung von der Kulturkritik

In seinem Gründungstext schreibt Horkheimer (1) die kritische Theorie eindeutig in die Tradition der fortschrittlichen Sozialkritik ein. Aber die Kritische Theorie hat auch Verbindungen zu den verschiedenen Formen, die die Kulturkritik seit dem 19. Jahrhundert annimmt, von welchen sich die erstere inspiriert und gleichzeitig abzusetzen versucht. Horkheimer  hat (2) eine nuancierte Vision der Lebensphilosophie und gründet einen um die kulturellen Faktoren erweiterten Materialismus. Marcuse macht (3) eine immanente Kritik an der Transformation der „affirmativen Kultur“ zu einem „heroisch-völkischen Realismus“ und greift die Konservative Revolution an, ohne sie mit der Kulturkritik zu vermischen. Tatsächlich unterhält die Kritische Theorie (4) von Anfang an eine ambivalente Beziehung zur Kulturkritik, wobei sie einigen Autoren dieser Provenienz (Spengler zum Beispiel) Verdienste zuspricht, da ihre Zeitdiagnosen klarsichtiger als die der Sozialkritiker wären.

2. Die Annährungen zwischen Kritischer Theorie und Kulturkritik

Indem die Kritische Theorie mehr und mehr zu der Überzeugung kommt, daß die politische Barbarei der Zeit die logische Folge der Entwicklung der modernen Zivilisation ist, nähert sie sich der Kulturkritik an. Es ist wohl nicht überraschend, daß sie sich angesichts der historischen Ereignisse zwischen 1930 und 1940 in eine pessimistische Richtung entwickelt. Überall entstehen immer wissenschaftlichere Formen der Herrschaft, was schließlich in der Idee der „Dialektik der Aufklärung“ endet: (1) Die wachsende Einschreibung der Rationalität in die Geschichte dank des industriellen Systems führt zu einer wachsenden sozialen Irrationalität. In der Nachkriegszeit wird die Kulturkritik explizit in die Kritische Theorie aufgenommen. Während Adorno (2) dies in Kulturkritik und Gesellschaft auf dialektische Art und Weise macht, indem er sich weiterhin von der Kulturkritik absetzt, vollzieht Horkheimer (3) die Annährung in seinem Essay Philosophie als Kulturkritik direkter.

3. Die Anerkennung der Zusammenhänge und der Wille zur Abgrenzung in der zweiten Generation der Frankfurter Schule

Während die erste Generation der Kritischen Theorie sich zunächst von der Kulturkritik abgrenzte und dann angefangen hat, sie in das eigene Theoriegerüst zu integrieren, sind die nachfolgenden Generationen auf Distanz zur Kulturkritik gegangen. Habermas assoziiert sie sowohl mit den Neokonservativen als auch mit den Aspekten der ersten Kritischen Theorie, von welchen er sich abzugrenzen versucht. Honneth unterstreicht auch die Verbindungslinien zwischen der ersten Kritischen Theorie und der Kulturkritik (z. B. Klages), wobei er das Projekt der Kritischen Theorie zutreffender erkannte: Die erschließende Kritik an den sozialen Pathologien der Moderne und die Analyse der Physionomie der kapitalistischen Lebensform.

Zusammenfassend situiert sich die Kritische Theorie in gleichem Abstand zum liberalen Optimismus der „offenen Gesellschaft“ (Popper) und zur konservativen Kulturkritik. Ihre Stichhaltigkeit ergibt sich daraus, daß sie die unvermeidbare Spannung zwischen der normativen Modernität der Aufklärung und der realen Moderne des Industriekapitalismus zeigt: weit davon entfernt Hand in Hand zu gehen, widersprechen sie sich. Sie greift demnach nicht die Aufklärung an, wie dies jene denken, die die Kritische Theorie vollständig mit der Kulturkritik assimilieren, sondern sie zeigt, daß die Aufklärung, als deren Erbin sie sich begreift, von einem inneren Widerspruch ausgehöhlt wird: Die sozio-strukturelle Moderne untergräbt die Versprechen der Aufklärung, ohne daß diese vollkommen unschuldig an dieser dialektischen Selbstzerstörung ist. Kurz, es geht darum das Programm des Fortschritts zu überarbeiten und es vor seinen eigenen Aporien zu retten. Indem sie das macht, kommt die Kritische Theorie zurück auf die These der ersten deutschen Soziologen: Die Rationalisierung wird bezahlt durch eine wachsende Herrschaft und eine vertiefte Verdinglichung.

Zweiter Teil : Die Kulturkritik der Jahrhundertwende

Die Kulturkritik wurde bis jetzt aus zwei verschiedenen Richtungen diskutiert, die sich heute folgendermaßen aufteilen: die eine identifiziert die Kulturkritik mit den ideologischen Wurzeln des Nazismus, während die andere sie auf die Frankfurter Schule zurückführt. Dabei geht die Kulturkritik, wenn man es genau nimmt, sowohl der faschistischen Ideologie als auch der Kritischen Theorie voraus, ohne mit einer der beiden identisch zu sein. Zunächst bedeutete sie, ohne politisch determiniert zu sein, eine generelle Kritik am industriellen Fortschritt, der mit der Vereinigung Deutschlands (1871) begann und während des Kaiserreichs um die Jahrhundertwende (1890-1914) aufblühte. So zumindest definiert sie Troeltsch in seiner grundlegenden Analyse von 1913. Nachdem im Folgenden der Essay Troeltschs diskutiert und Troeltsch selbst als einer der ersten Soziologen dargestellt wird (Kap. 4), wird es anschließend darum gehen, den historischen Kontext zu rekonstruieren, auf den Troeltsch sich bezieht. Das dominierende Ereignis der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, das  Deutschland grundlegend verändert, ist die Industrielle Revolution (Kap. 5). Die Beunruhigung, die sie hervorruft, drückt sich in einer Infragestellung der Zivilisation aus, die zu einer Masse von neuen Ideen, neuen Praktiken und neuen soziokulturellen Bewegungen führt (Kap. 6).

Kap. 4 : Ernst Troeltsch und die Kulturkritik

Die Arbeit Troeltschs hat den Vorteil, nicht nur zeitgenössisch von der Kulturkritik – im Gegensatz zu anderen Analysen, die später und retrospektiv vorgenommen wurden –, sondern auch die erste Analyse überhaupt zu sein; zudem liefert sie einen relativ vollständigen und verständlichen Überblick über die Kulturkritik. Nachdem ich den intellektuellen Werdegang Troeltschs dargestellt habe, werde ich anschließend eine eingehende Analyse seines Essays über die Kulturkritik vornehmen, um schließlich seine eigene Kulturkritik in den Debatten seiner Zeit zu verorten.

1. Ernst Troeltsch: Theologe, Soziologe, Philosoph

Von seiner Ausbildung her Theologe hat sich Troeltsch danach für die Soziologie interessiert und sich mit Weber angefreundet (wie diesen wird Troeltsch manchmal als Gründervater der deutschen Soziologie angesehen). Vor allem hat er sich jedoch der Philosophie gewidmet und besonders eingehend der Frage des Historismus: wie lassen sich die aus dem Historismus resultierenden „Kulturpathologien“ (Atheismus, Relativismus und Skeptizismus) vermeiden, ohne diese Sichtweise, die sich so außerordentlich fruchtbar für die Kenntnis des Menschen und seiner Welt erwiesen hat, ganz zurückzuweisen?

2. Die Kulturkritik: eine umfassende und radikale Kritik am mechanistischem Jahrhundert

Troeltsch definiert die Kulturkritik als eine neue Geistesströmung, die aus dem Schoß der modernen Welt heraus ihre grundlegenden Erscheinungsformen kritisiert, seien sie nun kultureller oder sozio-struktureller Natur: es ist eine umfassende und radikale Kritik des „mechanistischem Jahrhunderts“, die im Gegensatz zur Sozialkritik den Fortschrittsgedanken und die Ideale der Aufklärung in Frage stellt.

3. Die positive Seite der Kulturkritik, zwischen romantischer Passivität und lebensphilosophischem Aktivismus

Schwieriger als die negative Seite der Kulturkritik ist ihre positive Seite zu fassen, so stark ist diese oppositionelle Bewegung von Widersprüchen durchzogen. Troeltsch begnügt sich damit, einen Aspekt hervorzuheben: die Kulturkritik wird zwar als „Neuromantik“ bezeichnet, unterscheidet sich von der Romantik jedoch durch die Ablehnung der „romantischen Selbstspiegelung“ und ihrer „ästhetisierenden und beschaulichen Selbstbespiegelung“. Die Kulturkritik zeichnet sich vielmehr gerade durch ihren „Aktivismus“ aus.

4. Eine heterogene Strömung

Troeltsch zeichnet eine interessante Typologie der verschiedenen Formen der Kulturkritik. Unter den Einfluß von Simmel und dessen Analysen von Nietzsche und seinem qualitativen Individualismus, unterscheidet er zunächst die individualistische Kulturkritik mit ihrem aristokratischen und heroischen Charakter. Dieser stellt er die sozialistische Kulturkritik gegenüber (am Beispiels Carlyles), die sich wiederum von der Sozialdemokratie durch ihre Idee des „organischen Sozialismus“ unterscheidet und als sozialkonservativ charakterisiert werden muß. Weiterhin gibt es die Kulturkritik der Ästheten: auf der Basis der künstlerischen Revolution des ausgehenden 19. Jahrhunderts entwickelt sich eine Kulturkritik, die sich von ästhetischen Kriterien inspirieren läßt (wie bei Stefan George) und sich in der Welt der Künstler verortet. Abschließend zeichnet Troeltsch auch eine Kulturkritik religiöser oder spiritualistischer Herkunft, die sich vor allem auf die Entzauberung der Welt bezieht und das Heil in außerkirchlichen Formen der Religiosität sucht (vgl. Maeterlinck, Tolstoi und Steiner).

5. Die Kulturkritik von Troeltsch, zwischen spiritueller Reaktion und sozialer Reflexion

Troeltsch liefert uns eine detaillierte Analyse der Kulturkritik, die ihre verschiedenen Facetten und ihre positiven Aspekte aufzeigt. Er selbst entwickelt eine Kulturkritik, die, obwohl in religiösen Fragen verwurzelt, sehr aufmerksam sozio-ökonomischen Problemen gegenüber ist und niemals in eine plumpe Ablehnung des Fortschritts verfällt. Er hebt ganz besonders die Dialektik zwischen Individualismus und Kapitalismus hervor: auch wenn der Kapitalismus zunächst die individuelle Freiheit in den Vordergrund stellt, bedroht er ebendiese im Laufe der industriellen Ära. Nach dem Krieg hat Troeltsch sich gegen die konservative Revolution gestellt und aufgezeigt, daß diese Ideologie nicht den Industrialismus in Frage stellt, sondern im Gegenteil im Dienste der Industrie- und Militarimusbarone steht.

Kap. 5 : Die industrielle Revolution im Kaiserreich

Anstatt die Kulturkritik als „Kritik an der Moderne“ zu definieren, da dieser Ausdruck zu unpräzise wäre, definiert Troeltsch sie als „Kritik am mechanistischen Jahrhundert“. Damit ist die Zeitspanne der Industriellen Revolution gemeint, die Deutschland in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts grundlegend verändert hat. Nachdem ich die großen Etappen und Eigentümlichkeiten der deutschen Industrialisierung in Erinnerung gerufen habe, werde ich auf die wirtschaftlichen Veränderungen eingehen. Anschließend werde ich ihre politischen und kulturellen Auswirkungen analysieren, ohne die Analyse der sozio-ökonomischen Transformationen davon zu trennen, wie sie von den Zeitgenossen empfunden und interpretiert wurden.

1. Die Wandlung des ruralen Deutschlands in ein Industrieimperium

Der wirtschaftliche take-off fand in Deutschland später statt als in England oder Frankreich. Nach zwei wirtschaftlichen Hochphasen in einem liberalen Kontext (1850-1857 und 1871-1873), wird Deutschland von einer wirtschaftlichen Krise erfaßt, die Bismarck dazu veranlaßt, den ökonomischen Liberalismus aufzugeben und einen organisierten Kapitalismus oder ‚monopolistischen Staatskapitalismus‘ an seine Stelle treten zu lassen. Unter diesen neuen Voraussetzungen schreitet die Industrialisierung des Landes in einem rasanten Tempo voran und läßt die Krise gegen 1896 hinter sich. Die Zeit der Jahrhundertwende ist demnach die Zeit, indem sich der Übergang Deutschlands von einem Agrar- zu einem Industriestaat vollzieht. Diese Wandlung rief zahllose ökonomische, kulturelle und politische Debatten hervor, unter anderem die berühmte Kontroverse zwischen Max Weber und Karl Oldenberg.

2. Der Ausbruch des „modernen Kapitalismus“ (Sombart)

Am Ende des 19. Jahrhunderts wurde die brutale Wandlung Deutschlands von Sombart, Ökonom der den ersten Soziologen nahestand und wie sie zwischen der Sozialkritik und der Kulturkritik hin und her gerissen war, als Ausbruch des „modernen Kapitalismus“ begriffen. In dieser Produktionsweise, die mit dem Maschinismus aufkam, werden die Technik und die Wissenschaft zu Produktivkräften, was wiederum Auswirkungen hat auf ihre soziale Funktion und die Art und Weise, wie sie wahrgenommen werden (1). Darüber hinaus zeichnet sich dieses System durch die wachsende Bedeutung des Kapitals als Produktionsfaktor aus, die begleitet wird von einer starken Ausweitung der Herrschaft des Geldes (2). Schließlich bedingt es grundlegende Wandlungen in der Natur, der Organisation und der Intensität der Arbeit (3). Während die Kulturkritiker all diese Aspekte der Industriellen Revolution angreifen, machen sie im Allgemeinen keine präzise Analyse dieser ökonomischen Wandlungen. Sie begnügen sich vielmehr meistens damit, auf idealistische Art und Weise das Geld und die Intensivierung der Arbeit zu kritisieren und neigen dazu, die Technik als Grund allen Übels der Gegenwart anzusehen.

3. Die politische Erneuerung

Auch wenn das kaiserliche Deutschland sich in wirtschaftlicher Hinsicht modernisiert, wird häufig unterstrichen, daß es in soziopolitischer Hinsicht noch recht archaisch geblieben ist. Dieses Urteil bezieht sich vor allem auf das politische Regime und seine soziale Basis, also auf die Tatsache, daß die Führung des Kaiserreichs immer noch in den Händen der alten Aristokratie liegt. Aber auch wenn der „Kopf“ der Staatsnation immer noch von einem gewissen Archaismus geprägt ist, modernisiert sich sein „Körper“. Die Gesellschaft entwickelt sich langsam in Richtung einer modernen Massen- und Klassendemokratie, welches sehr verschiedene Kritiken der Kulturkritiker hervorruft, je nachdem ob sie die Nivellierung, den Konformismus, die Uniformisierung oder die Atomisierung anprangern. Darüber hinaus greifen sie auch den Parlamentarismus und die Massenpresse an (1). Außerdem bürokratisiert der Staat seine Verwaltungsstrukturen und entwickelt eine soziale Politik, die auf der Spitze der Zeit ist. Die daraus resultierende Zentralisierung und Bürokratisierung prangert die Kulturkritik unter Bezugnahme auf das Genossenschaftsrecht an. Für Alfred Weber führt diese Entwicklung zu einer geistigen Wandlung des Menschen, die zu einem Verlust der Lust an und des Sinnes für die Freiheit führen kann (2). In der Außenpolitik tut der deutsche Staat es den anderen großen industriellen Mächten gleich und beginnt eine imperialistische Politik der kolonialen Expansion, die marginal eine gewisse Kritik hervorruft, aber auch die Zustimmung aller Nationalisten (3).

4. Die soziokulturellen Umstürze

Die Industrialisierung wurde begleitet von einer tiefgreifenden soziokulturellen Wandlung, ja hat diese sogar bedingt. Sicherlich läßt sich Tragweite der soziokulturellen Revolution, die zu unserer heutigen Welt geführt hat, nicht allein durch die industrielle Revolution im engeren, wirtschaftlichen Sinne erklären. Ebenso offensichtlich ist es, daß die Einführung des industriellen Kapitalismus eine entscheidende Rolle im allgemeinen Umsturz der Lebensweisen gespielt hat, welche die industrielle Revolution im weiteren Sinne ausmacht. Die erste große Veränderung, die mit der industriellen Revolution zusammenhängt, ist zunächst die Urbanisierung, besonders das Aufkommen eines neuen Stadttypus, die industrielle Metropole, die im Zentrum der Analysen der Kulturkritik steht, sei es um sie aufs Heftigste zurückzuweisen wie Nietzsche, sei es, um wie Simmel ihre Auswirkungen auf das Geistesleben zu analysieren (1). Sie ist, als Labor der Moderne, die Wiege der neuen Phänomene, die mehr oder weniger direkt mit der industriellen Revolution verbunden sind: auf der einen Seite der Konsum, die Mode und die Werbung, wahrgenommen und kritisiert als Symptome eines neuen Lebensstils und eines neuen, hedonistischen und materialistischen Geistes, derjenige der „letzen Menschen“ (2); auf der anderen Seite ist die Großstadt auch das Epizentrum der Frauenbewegung, die bei der Kulturkritik entweder eine tief sitzende Ablehnung hervorruft, oder, wie bei Simmel, Hoffnungen generiert, daß die Frau ein Erlösungsversprechen angesichts der entfremdeten Welt der Moderne verkörpert (3). Zum Abschluß sei noch die Modernisierung des Bildungssystems erwähnt, angesichts derer die Kulturkritik sich aufspaltet in einen ultrakonservativen und einen reformistischen Zweig (4).

Kap. 6: Die bürgerliche Gegenkultur um 1900

Die Kulturkritik ist nicht nur eine Denkströmung, sondern eine aktivistische Bewegung auf die Suche nach alternativen Lebensformen. Ich möchte hier die Analyse von Troeltsch mit einer „Soziologie“ der Kulturkritik ergänzen, welche ihre Rezeptionsmilieus (1), die neue mit ihr verbundene Praktiken (2) und die ihr eigentümliche Semantik (3) analysiert.

1. Andersdenkende Milieus (milieux dissidents)

Die Kulturkritik ist mit dem Bildungsbürgertum verbunden, dem „intellektuellen“ Flügel des deutschen Bürgertums. Man sollte sie aber nicht vorschnell auf die akademische Welt beschränken, wie Fritz Ringer in seinem Werk „The Declin of the German Mandarins“, der sie als die desillusionierte Reaktion einer zum Verfall bestimmten akademischen Elite interpretiert (1). Sie ist vielmehr in den Klassen der Mittelschicht verwurzelt, die den sozialen Sockel der diversen Spaltungsbewegungen bilden: die Boheme der künstlerischen und politischen Avantgarde, mit der besonderen Präsenz einer jüdischen anarchisierenden Intelligenz (2), und die revoltierte Welt der Jugendbewegung, in der ich besonders die Person Walter Benjamins herausstellen möchte (3).

2. Alternative Praktiken: die Lebensreform

In Zusammenhang mit der Jugendbewegung, entstehen und verbreiten sich im Deutschland der Jahrhundertwende eine ganze Reihe von Lebensreformbewegungen, die für eine Veränderung bestimmter Aspekte des Lebens kämpfen, sei es im Bereich der Ernährung oder der Kleidung, der Sexualität oder des Urbanismus, der Medizin oder der Bildung. Sicherlich ist die Lebensreform eine reformistische Alternative zur sozialen Revolution. Denn auch wenn alle beteiligten Bewegungen von gewissen Einwänden gegen die industrielle Welt zeugen und manchmal sogar zu einer Lösung der sozialen und kulturellen Probleme der Epoche beitragen möchten, so doch ohne dabei die Politik und die damit implizierten Kräfteverhältnisse anzutasten. Zunächst möchte ich, anhand der Figur Sombarts, den Apolitismus und den Assioziationismus der Dissidenten um 1900 behandeln (1). Dann möchte ich die Analyse der Masse der verschiedenen Lebensreformbewegungen anschließen (2), um schließlich anhand der Personen von Theodor Lessing und Ludwig Klages das Aufkommen eines Typs der ökologischen Kulturkritik mit antiindustriellen Anlehnungen darzustellen (3).

3. Die lebensphilosophische Semantik der Kulturkritik

Man könnte sich fragen, wo die Verbindung zwischen so verschiedenen Diskursen, Milieus und Praktiken liegt: alle haben mehr oder weniger gemeinsam, einen dritten Weg zwischen dem klassischen Liberalismus und der (offiziell) revolutionären und marxistischen Sozialdemokratie zu suchen. Aber es gibt noch etwas: sie teilen auch eine gemeinsame Sprache, eine zum Teil von der Romantik geerbte und zum Teil aus der Entwicklung der Lebensphilosophie im 19. Jahrhundert hervorgegangene Semantik. Ich werde demnach einige Aspekte dieser Semantik analysieren, die eine homogene Basis von Ausdrücken bilden, in der sich, in verschiedenen Abstufungen, die meisten Diskurse, die mit der Kulturkritik in Zusammenhang stehen, wieder finden lassen. Nachdem ich das Konzept der Lebensphilosophie und seine Entwicklung seit dem Ende des 18. Jahrhunderts dargestellt habe (1), werde ich die verschiedenen Bedeutungen der zentralen Metapher der „Mechanisierung des Lebens“ anhand der Person Walter Rathenaus (2) analysieren. Anschließend werde ich einige andere lebensphilosophische Aspekte der Sprache der Kulturkritik darstellen (3), um schließlich der Entartungstheoretiker Max Nordau vorzustellen, eine Person, die sich nicht leicht in die deutsche Kulturkritik einordnen läßt, und die zwischen der Kulturkritik und der Verteidigung der etablierten Ordnung gefangen ist (4).

In der Schluß schlage ich drei Faktoren vor, die es erlauben, die Intensität der Kulturkritik in Deutschland um 1900 zu erklären: zum ersten hat sich die Industrialisierung sehr viel heftiger und schneller vollzogen als in den anderen Ländern; zweitens besaßen die Deutschen eine Semantik, die sie für die mit diesen Veränderungen verbundenen Problemen sensibel sein ließ. Drittens ging die wirtschaftliche Modernisierung der Nation nicht mit ihrer politischen Modernisierung im Sinne einer Demokratisierung einher, was den Glauben an den Fortschritt beim akademischen Bürgertum geschwächt hat.

Dritter Teil: Die soziologische Zeitdiagnose

A bien des égards, les trois pères fondateurs de la sociologie allemande semblent retrouver le propos de la critique culturelle. Ils ont en commun de penser le « progrès » comme un processus de rationalisation et d’intellectualisation, et de faire de cette inscription croissante de la raison dans l’histoire la source de phénomènes pathologiques : désenchantement du monde, dépersonnalisation croissante des relations humaines, poids accru des structures sociales menaçant d’entraver le libre épanouissement de chacun, aliénation et réification. En outre, tous trois donnent à leur réflexion une portée anthropologique : ils essaient de saisir ce que ce processus modifie au cœur même de l’humain, en le pensant comme le développement de nouveaux « types humains ». Mais si tout cela relève bien de la critique culturelle, à la différence de cette dernière, ils prennent en compte le savoir issu de la critique sociale. En fait, ils combinent l’analyse socio-économique de Marx à l’approche anthropologico-culturelle de Nietzsche. Cette combinaison peut être comprise de deux manières différentes.

D’un côté, on peut dire qu’ils reprennent le diagnostic nietzschéen sur la base d’une étiologie socio-économique inspirée de Marx : pour eux, le nihilisme est bien la conséquence du développement de la modernité socio-structurelle, c’est-à-dire avant tout du capitalisme.

D’un autre côté, on peut dire qu’ils abordent le même « objet » que Marx dans la « perspective » nietzschéenne de ses conséquences anthropologiques, c’est-à-dire qu’ils interrogent le développement économique moderne en termes de « types humains ». Plus précisément, ils reprennent un thème de l’analyse marxienne du capital en essayant d’en saisir toutes les implications culturelles. Marx présente le développement capitaliste comme un processus par lequel une abstraction (la valeur, le capital) s’empare peu à peu du monde social pour se réaliser et le détruire. C’est le thème de l’« abstraction réelle ». Sous la notion de rationalisation, les sociologues retrouvent un schéma et des thèmes similaires, mais en les élargissant doublement sous l’influence de Nietzsche. Alors que Marx se concentre sur la valeur, les sociologues n’y voient plus qu’une matrice parmi d’autres, à côté de l’Etat bureaucratique, d’un processus de rationalisation plus général. Et alors que Marx analyse surtout les implications sociales de ce processus, les sociologues vont chercher à en montrer les conséquences culturelles et anthropologiques plus larges.

C’est cette conjonction entre la critique sociale et la critique culturelle, et plus précisément entre Marx et Nietzsche, qui est à la base de la « sociologie allemande » et lui confère ses caractéristiques propres. Si cette structure générale est vraie, à différents degrés, pour ses trois « pères fondateurs », leurs diagnostics respectifs n’en présentent pas moins de considérables différences, tant sur le plan du contenu que de la méthode mise en œuvre. Comme il m’a semblé impossible de résumer en quelques mots leurs parcours, leurs analyses ainsi que l’interprétation que j’en propose, je me contente dans les paragraphes suivants de souligner ce qui distingue entre eux les trois pères fondateurs de la sociologie.

Kap. 7: Tönnies und die Auflösung der gemeinschaftlichen Lebensformen

Tönnies cherche à saisir l’ensemble des bouleversements menant au monde moderne en construisant, à tous les niveaux de la vie socioculturelle, des oppositions typologiques et en articulant ces niveaux de manière analogique. A la transformation sociale menant de la vie en communauté à la vie en société correspond notamment, sur le plan anthropologique, un bouleversement de l’économie psychique au cours duquel le calcul rationnel prend le pas sur la spontanéité affective. Ce processus de rationalisation se traduit par une érosion dramatique des solidarités communautaires constitutives de la vie éthique et de la condition humaine, ce qui favorise le développement de l’oppression sociale, de l’aliénation personnelle et du déracinement culturel. Selon Tönnies, le développement du capitalisme est un facteur central de cette évolution pathologique. Quel que soit son « pessimisme culturel », son analyse du monde moderne témoigne néanmoins d’une forte inspiration sociale : elle part de la « question sociale » et se fait à travers le prisme d’une éthique « communiste » fondée sur la valorisation de la fraternité et de la solidarité. S’il fallait le situer dans la typologie de Troeltsch, il pencherait du côté de la « critique culturelle socialiste », avec cette différence toutefois que Tönnies est solidement ancré dans la tradition politique de la social-démocratie.

Kap. 8: Simmel und die Moderne als Umkehrung der Mitteln und der Zwecke 

Alors que Tönnies cherche à théoriser de manière assez abstraite l’ensemble des bouleversements liés à la modernisation, le diagnostic de Simmel se présente plutôt comme une phénoménologie fragmentaire de la modernité sensible. Il part de phénomènes quotidiens typiquement modernes, comme par exemple l’argent, la mode ou la grande ville, et cherche à saisir la manière dont ils agissent sur l’âme humaine. Pour lui, l’usage croissant de l’argent et la vie dans les grandes villes favorisent le développement de l’intellect calculateur au détriment des affects, ce qui se traduit sur le plan anthropologique par la figure pathologique de l’homme blasé, indifférent à tout et en ce sens « nihiliste ». Mais l’approche de Simmel n’est pas tant étiologique que « symptomatologique » : il cherche moins à mettre en évidence des relations causales qu’à déchiffrer, par le moyen d’analogies, ce que les phénomènes sociaux ou matériels révèlent sur « l’esprit moderne ». Il les aborde comme des symptômes de l’esprit du temps, un esprit qui se caractérise selon lui par le subjectivisme, le relativisme et l’inquiétude. Aux antipodes de Tönnies, sa pensée présente une forte inspiration esthétique et individualiste : il se préoccupe avant tout du destin de l’intériorité subjective menacée par l’inversion des moyens en fins et le développement hypertrophique de la culture objective. Dans la typologie de Troeltsch, il se situe du côté de la critique culturelle individualiste, avec des éléments esthétiques-spiritualistes. En 1914, Simmel n’en sera pas moins tenté de voir dans la guerre un remède aux pathologies de la civilisation moderne.

Kap. 9: Weber und das stahlharte Gehäuse der Moderne

Contrairement à Tönnies et Simmel qui délaissent la réflexion causale et historique au profit de constructions analogiques et métaphysiques, Weber cherche à comprendre causalement et historiquement le destin de la civilisation moderne, et plus précisément les « problèmes culturels » posés par le développement des deux puissances qui scellent le destin de l’Occident : le capitalisme et l’Etat bureaucratique. Ce qu’il voit se profiler, c’est une « cage d’acier » pesant si lourdement sur les individus que la liberté s’en trouve profondément réduite. Et cette réduction est d’autant plus problématique que ces puissances, avec l’aide de la science et de la technique, entraînent en même temps la « rationalisation de la vie » et le « désenchantement du monde ». Dans son diagnostic du présent comme dans ses études historiques, l’attention de Weber va toujours aux types d’humanité que les différentes constellations historiques cultivent. Et dans le sillage de Nietzsche, il n’a pas en grande estime les « derniers hommes » de la civilisation moderne, utilitariste et hédoniste. Sa sociologie se présente ainsi comme une anthropologie historique orientée par la volonté de saisir comparativement la spécificité de l’humanité occidentale. Mais contrairement à Tönnies et Simmel, Weber est un penseur fondamentalement politique que l’engagement nationaliste et l’exigence de responsabilité conduisent à dénoncer fermement toutes les formes de critiques (sociales et culturelles), qui se leurrent en croyant qu’il serait possible d’abolir la cage d’acier.

Schluss: Die Eigentümlichkeiten der deutschen Soziologie (2)

En conclusion, j’ai essayé de faire apparaître à nouveau les spécificités de la sociologie allemande en la comparant à d’autres traditions de pensée. Par sa mise en question du progrès et de ses répercussions éthico-anthropologiques, elle se distingue nettement de la tradition sociologique française, qui ne s’est jamais vraiment libéré du positivisme et de sa focalisation sur la problématique hobbesienne de l’ordre social. Par ces caractéristiques, elle se rapproche plus de la philosophie politique française qui, de Montesquieu à Tocqueville, s’est plutôt intéressée à la problématique du façonnement culturel de l’humain, et à celle de la liberté. Dans cette mesure, elle anticipe plus sur la Théorie critique de l’école de Francfort que sur la sociologie telle qu’elle a été refondée en Allemagne après 1945.



[1] Die Geschichte des Begriffes kann in vier Etappen schematisiert werden, welche hier in umgekehrter Reihenfolge analysiert werden: Der Begriff ist 1913 von Ernst Troeltsch in einem eher unbekannten Text konzeptualisiert worden (Kap. 4). Es sind vielmehr Adorno im 1955 (Kap. 3) und Stern im 1961 (Kap. 2), die den aktuellen, herabwertenden Gebrauch geprägt haben. Georg Bollenbeck nimmt die Frage aktuell wieder auf, um den kognitiven Wert der Kulturkritik zu unterstreichen: Seit 1995 hat er der Kulturkritik indirekt zwei Werke gewidmet, und er schreibt jetzt eine allgemeine Geschichte der Kulturkritik von Rousseau bis Virilio (Kap. 1).