Transformationen der Moderne

Klaus Lichtblau

Berlin / Wien: Philo Verlagsgesellschaft 2002


Die bundesrepublikanische Soziologie hat im Unterschied zur angelsächsischen und französischsprachigen Welt von wenigen Ausnahmen abgesehen vornehmlich mit Unverständnis und Irritation auf die internationale Diskussion über die "Postmoderne" reagiert. Ihr eigenes akademisches Selbstverständnis ist offenbar dermaßen stark durch ein "progressives" entwicklungsgeschichtliches und universalistisches Konzept der Moderne geprägt, daß sich selbst die neueren soziologischen Ansätze zu einer Theorie der "reflexiven Modernisierung" immer noch in dem historisch vorgegebenen Bezugsrahmen einer nun ihrerseits bereits "klassisch" gewordenen Industriegesellschaft bewegen. Insbesondere deren aktuellen Auflösungserscheinungen und die Krise der nationalstaatlich geprägten Form der Vergesellschaftung im Zuge der anhaltenden Globalisierungsprozesse sind es, welche offensichtlich die soziologische Phantasie anregen, nicht aber die in den geistes- und kulturwissenschaftlichen Nachbardisziplinen bereits seit vielen Jahren intensiv geführten Auseinandersetzungen über das "Altern" der Moderne, den damit verbundenen Plausibilitätsschwund der "großen Erzählungen" und die Suche nach neuen ästhetischen, philosophischen und literarischen Beschreibungen des gegenwärtigen Zeitalters.

Konsequenterweise sind es denn auch vornehmlich sozialstrukturelle Befunde wie der Übergang von der "Gemeinschaft" zur "Gesellschaft", die damit verbundene globale Karriere des Modells der Marktvergesellschaftung und der Konkurrenzdemokratie, die zunehmende Ausdifferenzierung der Gesellschaft in funktionsspezifische Teilsysteme, die fortschreitende Rationalisierung und Intellektualisierung der ihnen zugrundeliegenden "Wertsphären" sowie die  Individualisierung der einzelnen Lebensentwürfe und Berufsschicksale, die im Vordergrund dieses zeitgenössischen soziologischen Modernitätsverständnisses stehen. Diese Topoi werden dabei unter Verweis auf die entsprechenden Hauptwerke der Begründer der modernen Soziologie wie Ferdinand Tönnies, Georg Simmel, Emile Durkheim und Max Weber auch in disziplingeschichtlicher Hinsicht als grundlegende und als solche nicht mehr weiter zu hinterfragende Erkenntnisbeiträge des eigenen Faches angesehen und gegenüber konkurrierenden Deutungen der Moderne, wie sie in den Geisteswissenschaften, aber auch in der Kunst und Literatur üblich sind, gleichsam immunisiert und so der weiteren Hinterfragung entzogen.

Eigenartigerweise wird in diesem Zusammenhang jedoch gerade den soziologischen Klassikern ein zutiefst ahistorisches Verständnis von Moderne unterstellt, das sich im wesentlichen den zeitbedingten Grundannahmen der sozialwissenschaftlichen Modernisierungstheorie verdankt, wie sie sich seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges in der westlichen Welt zu etablieren vermochte und die Überlegenheit des eigenen zivilisatorischen Entwurfes gegenüber konkurrierenden Modellen der Vergesellschaftung normativ absichern sollte. Tatsächlich sprachen aber die dabei in legitimatorischer Weise in Anspruch genommenen soziologischen Klassiker noch so gut wie gar nicht in einem substantivischen Sinne von "der Moderne", als sie sich Rechenschaft über die Eigenart der Gesellschaft zu verschaffen versuchten, in der sie selbst lebten, sondern allenfalls von der "neuen Zeit" beziehungsweise "modernen Zeit" oder schlicht "Neuzeit".

Dies kann als Hinweis darauf gelesen werden, daß es um 1900 nicht die Soziologen waren, die ursprünglich den Begriff der Moderne geprägt haben, sondern kritische Kommentatoren der modernen Kunst und Literatur sowie einzelne Vertreter der Philosophie und der verschiedenen geisteswissenschaftlichen Disziplinen. Überdies war das Verhältnis der soziologischen Klassiker zu jenen Intellektuellen und Literaten, die um 1900 in einem emphatischen Sinne den Begriff der Moderne gebrauchten, nicht von der Art, daß wir vorschnell von der Existenz eines "klassischen" soziologischen Modernitätsverständnisses ausgehen dürfen, das gleichsam in zeitenthobener Weise zum Gegenstand einer entsprechenden Kanonbildung gemacht werden könnte. Vielmehr unterscheiden sich die einzelnen Gründerväter der modernen Soziologie gerade auch grundlegend hinsichtlich ihrer Auseinandersetzung mit jener Erscheinungsform der ästhetischen Moderne, wie sie um 1900 allmählich Gestalt annahm, bevor sich der auf sie bezogene Diskurs der Moderne im 20. Jahrhundert schließlich ganz in eine Vielzahl von Gegenwartsbeschreibungen aufzulösen begann, die in keinem sinnvollen Gesamtzusammenhang mehr zu stehen scheinen.

Diese sogenannte "klassische Moderne", wie sie in der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert von der Kunst- und Literaturkritik gefeiert worden ist, steht aber zunächst einmal in überhaupt keinem Bezug zu jenem Modernitätsverständnis, wie es in der nach dem Zeiten Weltkrieg entstandenen soziologischen Modernisierungstheorie zum Ausdruck kommt, von der sich heute die Vertreter einer "zweiten" beziehungsweise "anderen Moderne" wieder so publikumswirksam abzugrenzen bemühen. Ja, es gibt Hinweise dafür, daß diese gegenwärtigen soziologischen Beschreibungen der Moderne nicht einmal mehr wissen, woher ihr Lieblingsbegriff eigentlich stammt, von dem sie sich nun in einer Art soziologischem Selbsthaß so nachhaltig distanzieren. Denn nur so kann ihnen entgangen sein, daß sie diesen Grundbegriff gewissermaßen als gesunkenes Kulturgut ursprünglich von einer Kunst- und Literaturkritik übernommen haben, deren namhafteste Vertreter heute allenfalls noch in entsprechenden kunst- und literaturgeschichtlichen Abhandlungen erwähnt werden.

Wir haben es hier also augenscheinlich mit zwei völlig verschiedenen "Kulturen" zu tun, die sich in höchst unterschiedlicher Weise darum bemühen, die Gegenwart auf den Begriff zu bringen. Irritierend ist dabei jedoch der Sachverhalt, daß bestimmte Vertreter der Kunst, Literatur, Kulturgeschichte und Philosophie zumindest in begriffsgeschichtlicher Hinsicht ihren soziologischen Fachkollegen um einiges voraus waren, als es darum ging, diesem Diskurs der Moderne einen präzisen Sinn zu geben. Ja, es gibt sogar entsprechende Belege dafür, daß erstere sich bereits wieder vom Begriff der Moderne zu distanzieren begannen, noch bevor die Soziologen darangingen, diesen für ihre eigenen Gegenwartsbeschreibungen in Anspruch zu nehmen. Das "Altern" und die "Überwindung" der Moderne beziehungsweise ihre Verewigung zu einer neuen "Klassik" findet also in den verschiedenen Diskursen und Disziplinen zu höchst unterschiedlichen Zeitpunkten statt, weshalb auch die Anschlußbegriffe, welche die sich dabei abzeichnende Lücke auszufüllen bestrebt sind, ihrerseits immer wieder höchst unterschiedlich ausfallen und bei einem unvoreingenommenen Beobachter den Eindruck hinterlassen müssen, daß wir es hier offensichtlich mit einer babylonischen Sprachverwirrung schlimmsten Ausmaßes zu tun haben, die das eigentliche Kennzeichen der Gegenwart bilde.

Wie soll man sich also gegenüber diesen höchst unterschiedlichen Poklamationen der Moderne und ihren Ersatzbegriffen verhalten, ohne dabei einem disziplinären "bias" zu verfallen, der gerade bei diesem Gegenstand aus guten Grünen überhaupt nicht angebracht ist? Gibt es irgend einen Zusammenhang zwischen diesen höchst unterschiedlichen Diskursen? Und wenn ja: In welcher Form kann dieser rekonstruiert werden, ohne daß eine willkürliche Definition von "Moderne" zum Ausgangspunkt der Analyse und Bewertung des entsprechenden semantischen Materials zu machen?

Die folgenden Untersuchungen stellen einen Beitrag zur Lösung dieses Problems dar. Ihnen liegt die Überzeugung zugrunde, daß nur eine Rekonstruktion, die sowohl die begriffsgeschichtlich feststellbare Vielfalt der Modernitätssemantiken als auch die unterschiedlichen disziplinären Beschreibungen der Moderne berücksichtigt, in der Lage ist, der im Begriff der Moderne enthaltene grundlegende Paradoxie Rechnung zu tragen. Nicht der Kampf zwischen den einzelnen Disziplinen ist angesagt, sondern der Versuch, den ihnen jeweils zugrundeliegende Erfahrungsgehalt von Modernität ernst zu nehmen und dergestalt diskursiv zur Entfaltung zu bringen, daß die einzelnen historischen Quellen als Mosaiksteine eines auflösbaren Puzzles erscheinen und ihren jeweiligen Stellenwert innerhalb einer übergreifenden Rahmenerzählung zugewiesen bekommen.

Diese hier zum ersten Mal zusammen vorgelegten und aufeinander abgestimmten Einzeluntersuchungen wurden dabei unter dem Titel Transformationen der Moderne zusammengefaßt. Damit soll zum Ausdruck gebracht werden, daß es sich hierbei um einen Diskurs handelt, dessen historische Entfaltung einer zunächst verborgen bleibenden Logik der Transformation folgt, die zwar nicht der dialektischen Selbstaufstufung des Hegelschen "Weltgeistes" gleicht, wohl aber gewisse Berührungspunkte mit den entsprechenden linguistischen Ansätzen zur Entwicklung einer generativen Transformationsgrammatik hat. Gegenstand der vorliegenden Untersuchung sind also nicht die "realen" Transformationen der Moderne selbst, sondern die entsprechenden historischen Veränderungen und Verschiebungen innerhalb des Redens und Schreibens über "die Moderne". Es wird in diesem Zusammenhang der Nachweis erbracht, daß diese im Laufe der Zeit feststellbaren Veränderungen und Verschiebungen innerhalb der Modernitätssemantik von ihren Protagonisten nicht willkürlich vorgenommen worden sind, sondern immer einer Grundunterscheidung verpflichtet bleiben, deren semantisches Potential sie bis an die Grenze des Absurden und der tendenziellen Selbstaufhebung dieses Diskurses zur Entfaltung bringen.

Der hier vorgeschlagene Umgang mit dem entsprechenden semantischen Material fühlt sich insofern zum einen den Kriterien einer historischen Quellenkritik verpflichtet, die unverzichtbar ist, sollen nicht die entsprechenden Konstruktionen wie bei manchen modernen Soziologen in der Luft schweben beziehungsweise sich bei genauerem Hinsehen gänzlich in Luft auflösen. Andererseits versagt eine ausschließlich an der Chronologie orientierte Vorgehensweise bei diesem anspruchsvollen Thema, wenn es darum geht, die Logik der Transformation dieses Diskurses über mehrere Jahrhunderte zu verfolgen. Es müssen also andere methodische Vorgehensweisen mitherangezogen werden, um den Nachweis zu erbringen, daß die sich als Moderne beschreibende "Epoche" in grundsätzlicher Weise von den bisherigen Epochenkonstruktionen der Historiker und Geschichtsphilosophen unterscheidet, weil es sich hier eben um keine vergangene Epoche handelt, sondern um eine Zustandsbeschreibung, die sich auf die jeweilige Gegenwart bezieht, ohne jedoch in einem historischen Sinne genau sagen zu können, was diese "Gegenwart" eigentlich ist. Die quellenmäßig belegten Rekonstruktionen des entsprechenden semantischen Materials müssen also durch systematische Überlegungen ergänzt werden, die sich ihrerseits einer spezifischen Erfahrung der Moderne beziehungsweise der verborgenen Logik des Sprechens und Schreibens über diesen merkwürdigen Geisteszustand verdanken.

Diese erstmals innerhalb eines ästhetischen Diskurses geführte Grundlagendiskussion über die Eigenart der Moderne war in erster Linie darum bemüht, eindeutige Kriterien für die Beurteilung der "Zeitgemäßheit" der künstlerischen und literarischen Produktionen ihrer Zeit zu entwickeln, um sie von den klassischen Vorgaben der Kunst- und Literaturgeschichte als etwas völlig Neues und Eigenwertiges abzugrenzen. Bezeichnenderweise bezieht man sich bei dieser bis heute anhaltenden Diskussion über die jeweilige Eigenart der Gegenwartskunst und -literatur immer wieder auf jene grundlegende Unterscheidung zwischen den "Alten" und den "Neuen", wie sie bereits zu Beginn des 17. Jahrhunderts in der berühmten Querelle des Ançiens et des Modernes verwendet worden ist, um so die epochale Gleichrangigkeit der künstlerischen Leistungen der Gegenwart gegenüber den überlieferten Werken der griechischen und römischen Antike hervorzuheben. Die um 1900 zunächst im Zeichen der Rezeption des französischen Naturalismus und Impressionismus erfolgende Verkündung der ästhetisch-literarischen Moderne im deutschen Sprachraum wurde dann anschließend auch auf verschiedene andere avantgardistische Bestrebungen innerhalb der zeitgenössischen Kunst und Literatur übertragen, ohne daß es jedoch jemals dabei gelang, jenseits der Globalunterscheidung zwischen "Antike" und "Moderne" beziehungsweise "alt" und "neu" ein wirklich kohärentes und alle Erscheinungsformen der Gegenwartskunst übergreifendes Verständnis von Moderne zu entwickeln.

Diese Logik der Selbstüberbietung, die seitdem die moderne Kunst kennzeichnet und sie beständig zu ihren berühmt-berüchtigten "Innovationen" zwingt, läßt sich übrigens auch innerhalb der fachgeschichtlichen Entwicklung der Soziologie feststellen. Denn auch diese folgt offensichtlich dem avantgardistischen Wahn, das Rad ständig neu erfinden zu müssen, ohne noch darüber Auskunft zu geben, welche Art von "Fortschritt" hier eigentlich stattfindet. Die von Reinhart Koselleck in eindrucksvollen Bildern beschriebene "neuzeitlich bewegte Geschichte" findet so ihr Pendant innerhalb der Geschichte dieses Faches, das sich nicht zufällig mit Haut und Haar dem Studium der "Moderne" verschrieben hat. Wie die Kunst und Literatur ist also auch die Soziologie in extremer Weise den historischen Windungen und Verästelungen des Diskurses über die Moderne ausgeliefert. Nicht die Ereignisse, sondern die Begriffe und die ihr jeweils zugrundeliegenden "Leitdifferenzen" sind es, die diesen Diskurs bis heute am Leben erhalten und ihn immer wieder neue Kapriolen schlagen lassen.

Dies wird nicht zuletzt deutlich, wenn wir uns die fachinternen Entwicklungen vergegenwärtigen, die in den letzten Jahrzehnten innerhalb der deutschsprachigen und internationalen Soziologie stattgefunden haben. Denn nicht nur in der Kunst und Literatur, sondern auch in der Soziologie wird bereits seit geraumer Zeit vom "Altern" oder gar dem "Ende" der Moderne gesprochen. Von hier aus ist es dann natürlich irgend wann einmal auch naheliegend, ein sogenanntes "postmodernes" Zeitalter zu erfinden und zu verkünden - ein Begriff, der übrigens so unbestimmt ist wie der, von dem er sich doch eigentlich positiv abzugrenzen bemüht. Nach dem Zusammenbruch des "realen" Sozialismus haben einige emsige Sozialforscher von einer "Transformation" der osteuropäischen Gesellschaften gesprochen. Sie meinten damit deren Reorientierung an den Grundsätzen der Menschenrechte, den rechtsstaatlichen Prinzipien der parlamentarischen Demokratie und den institutionellen Rahmenbedingungen einer liberalen Marktwirtschaft. Wieder andere sprechen heute unter dem Eindruck der Zunahme sogenannter "Sonderwege" in die Moderne schlichtweg von den "multiple modernities", um ihre Abgrenzung von der herkömmlichen sozialwissenschaftlichen Modernisierungsforschung zu betonen.

In der vorliegenden Essaysammlung wird ein anderer Weg beschritten. Ihr liegt eine historisch-systematische Betrachtungsweise der jeweils zu einer Zeit vorherrschenden Modernitätssemantik zugrunde. Sie kommt dabei zu dem Ergebnis, daß die Entfaltung des Diskurses über die Moderne weder dem linearen Modell der zunehmenden Perfektionierung eines in ihm angeblich bereits von Anfang an enthaltenen Grundprinzips folgt, wobei der jeweils erreichte Grad an Modernität dann notwendig als "unvollendet" dargestellt werden muß; noch teilt sie die Ansicht, daß diese Entwicklung mit dem traditionellen platonischen Modell der Läuterung einer apriorisch vorgegebenen "Idee" identisch ist. Vielmehr wird davon ausgegangen, daß der Diskurs der Moderne der bereits von Nietzsche beschriebenen Figur der ewigen Wiederkehr des Gleichen entspricht. Allerdings handelt es sich bei diesem "Gleichen" nicht um die unverwechselbare Identität eines zeitlos vorgegebenen Sinngehaltes, sondern um die Entfaltung einer Differenz im Sinne einer sich ständig vermehrenden Bedeutungsvielfalt. In diesem Buch wird der Versuch unternommen, das Problem der damit verbundenen paradoxen "Einheit der Differenz" in Gestalt einer begriffenen Geschichte deutlich zu machen.