Zeichnungen Oktober 2010

„Kann die Vergangenheit als abgelegte Zeit erlebt werden? Ist sie in der Abfolge von zwei Augenblicken (jetzt, jetzt) erlebbar? Oder gehören Erinnerung und Vergangenheit nicht zum Erleben? Erleben wir nur Abschattungen? Marcel Proust würde annehmen, dass es so etwas gibt wie die wiedergefundene Zeit, die wir in der Abfolge von Augenblicken erleben. Nach Henri Bergson erleben wir die Vergangenheit nicht. Wir haben nur Erinnerungsbilder. Was ist dabei mit „Bildern“ gemeint?

Jedes Ereignis kann nur in die Gegenwart eintreten, um zu verschwinden. Das gilt auch für Neues und jeden neuen Tag. Sie können nicht in die Gegenwart eintreten, ohne ihren Charakter des Neuen zu verlieren. Gegenwart kann nur als etwas in einer vergangenen Zukunft beschrieben werden. Wenn Gegenwart als eine Unterscheidung der Nichtübereinstimmung von Vergangenheit und Zukunft zu begreifen ist, dann sind in der Gegenwart nur noch Entscheidungen zu kennzeichnen. Es kann und mag offen bleiben, wann und wem sie zugerechnet werden.

Die Gegenwart ist kein einzelner Zeitpunkt. Wir können nicht festhalten, wo er anfängt und aufhört. Die Störung fängt da an, wo wir die Zeit nicht mehr als früher und später erfassen können. Unser Da-sein ist auf die Zukunft ausgerichtet. Durch die Verschriftlichung der Zeit geht sie in eine räumliche Struktur über. Die Abfolge der Augenblicke wird unterbrochen. Ihre Bestandteile sind beeinfluss- und austauschbar. Wenn wir etwas erinnern, schreiben wir eine Geschichte neu. Wir schreiben sie um. Man sagt immer: Erinnerung hat eine Richtung nach vorn. Aber das ist ein Trugbild. Erinnerung ist eine Erfindung. Das Gedächtnis erfindet seine Geschichte, da es zeitlich ist. Wir können uns nicht selbst erfassen. Wir bleiben uns letztlich verborgen. Die Zeit täuscht darüber hinweg, da sie vorgibt, es gebe einen Anfang und ein Ende. Das sind aber nur Setzungen, die wir vornehmen. Wir sind bereits tot, wenn wir geboren werden. Wir sind nicht. Wir sind nur als uns selbst undurchsichtig, als fixiert an das Später, die Erwartung. Wenn das Erwartete eintritt, ist es für immer vergangen.

Die vor mir liegenden Hefte irritieren mich. Lese einzelne Seiten  durch. Fange an, am Text zu korrigieren. Die Korrekturen gehen in Umschreibung über. Es gibt nicht nur einen Text, auch nicht den ersten Text. Der Text setzt sich selbst voraus. Er unterläuft die Unterscheidung zwischen Geschriebenen und Nichtgeschriebenen. Er kann nicht anfangen und nicht aufhören. Jedes Aufhören ist vorübergehend. Auf einmal stellt sich ein, dass sich nicht nur der Text neu schreibt, sondern, dass er anfängt, sich selbst zu schreiben. Was er darstellt, mitteilt und ausdrückt, unterscheidet er in sich selbst. Insofern gibt es keine Welt außerhalb des Textes. Der Text kann seine Grenze zu seiner anderen Seite nicht überschreiten. Er kann sein Aufhören nur im Text durch ein Textende markieren.

Es tritt eine Paradoxie im Objekt auf: Der Text ist kein Dokument des Autors, sonst könnte er den Leser nicht erreichen. Wenn sich der Text nur selbst beobachten kann, so kann er nur paradox kommunizieren, da sich seine Mitteilung und seine Darstellung miteinander zu verschwören haben. Insofern hat er immer auch Unverständliches zu kommunizieren.
Der Text kann sich nicht selbst-offenbaren. Wäre das so, so würde er seinen Ausdruck wechseln. Er wäre nicht mehr Text. Er kann sich nur als Text mitteilen. Er kann sich selbst-dekonstruieren. Dekonstruiert er den Autor, wie bei Stephan Mallarmé, dann bleibt nicht die Darstellung, sondern die Operation zurück. Wird dagegen die Darstellung dekonstruiert, so löst er Ausdrucksformen auf, zum Beispiel die Form des Romans, wie in John Dos Passos’ Manhattan Transfer. Beides kann nur durch Selbstreferenz erfolgen. Eine Selbst- ohne Fremdreferenz gibt es aber nicht. Wir können nicht an den Rand des Textes gehen und seine Grenze zu seiner anderen Seite überschreiten. Er kann nur irritiert werden. Das kann der Text aber wiederum nur durch eine Unterscheidung, die nur im Text vorzunehmen ist.“

Auszug aus

Gerhard Preyer

Der Verlorene

Unveröffentlicht

 

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