Ingenieur und Schriftsteller aus Kolin in Böhmen
geboren am 21. Februar 1838
gestorben am 22. Dezember 1921
von Martin Rosebrock
I
Ehrengrab der jüdischen Kultusgemeinde auf dem Wiener Zentralfriedhof für Josef Popper-Lynkeus (Photo: Chr. Dreier) "Josef Popper-Lynkeus Ingenieur und Schriftsteller aus Kolin in Böhmen geboren am 21. Februar 1838 gestorben am 22. Dezember 1921" |
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Unter einem Grabstein mit dieser Überschrift ruhen auf dem Wiener Zentralfriedhof die sterblichen Überreste von Josef Popper, einem der originellsten und vielseitigsten Denker seiner Zeit. Obwohl er damals von der institutionalisierte Wissenschaft wenig zur Kenntnis genommen und auch in der Öffentlichkeit sein Name fast ausschließlich mit seinen Erzählungen "Phantasien eines Realisten" verbunden wurde (das zur Herausgabe dieses Buches verwendete Pseudonym "Lynkeus" wurde seitdem zum festen Bestandteil seines Namens, denn er meinte, weiter sehen zu können als andere, wie der scharfsichtige Steuermann der Argonauten oder wie der Turmwärter aus Goethes Faust), hat er auf diejenigen, die näher mit ihm oder seinen Ideen in Berührung gekommen sind, einen unauslöschlichen Eindruck gemacht. Das inzwischen vergangene Jahrhundert hat zwar die Aktualität seiner Werke gemindert, ihnen aber nicht ihre Faszination rauben können.
Josef Popper hat sich, neben seiner Brotarbeit als Ingenieur und Erfinder, insbesondere mit sozialwissenschaftlichen Fragen beschäftigt, aber auch mathematische und physikalische Aufsätze veröffentlicht. Er hatte Kontakt mit Sigmund Freud, der in einer der "Phantasien" eine Grundthese seiner Traumdeutung entdeckte. Albert Einstein, die Mathematiker Richard von Mises und Otto Neurath, der Religionsphilosoph Martin Buber, Hermann Bahr, Arthur Schnitzler und Stefan Zweig ‑ um nur die heute noch allgemein bekannten Namen zu nennen ‑ fanden sich zu Besuchen in seiner bescheiden‑kleinbürgerlichen Wohnung in der Woltergasse in Wien‑Hietzing ein; Ernst Mach war einer seiner engen Freunde. Dazu kommen noch zahlreiche Persönlichkeiten, die zu ihrer Zeit und in ihrem Wirkungskreis Einfluß und Ansehen besaßen.
1918 entstand anläßlich seines überall im deutschsprachigen Raum beachteten und gefeierten 80. Geburtstags ein Verein "Allgemeine Nährpflicht" zur Verbreitung und Einführung von Poppers wichtigstem sozialreformerischem Anliegen. Ihm machten erst die Nationalsozialisten 1938 ein Ende, nachdem sie zunächst versucht hatten, Poppers Idee als philosophische Verbrämung ihres Arbeitsdienstes zu vereinnahmen.
Dafür fand sie indirekt - hauptsächlich über Max Brod (von dem das folgende Zitat stammt) Eingang in die den Staat Israel konstituierende Ideenwelt als "die erwünschte Grundlage eines jüdischen und allmenschlichen Sozialismus".
II
"lch bin am 21. Februar 1838 in Kolin in Böhmen von jüdischen Eltern geboren, und im Ghetto bis zu meinem 15. Jahre aufgewachsen. lch hatte vier Brüder, von denen drei schon als Kinder starben und der eine, der älteste von uns, im Jahre 1896 starb." So beginnt die kurze Selbstbiographie von Josef Popper‑Lynkeus, und diese wenigen Worte verraten viel von der Armut und dem Elend, die seine Jugend kennzeichneten.
Das Geburtshaus Josef Poppers in Kolin Photo: H. Kubrt; Wiedergabe mit freundlicher Genehmigung des Archiv bri J. L. Kamarytu, Kolin |
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Bis zum Alter von 12 Jahren besuchte er die jüdische Schule des Ghettos, in der der größte Teil der Lehrstunden mit hebräischer Grammatik und Lektüre der Bibel ausgefüllt wurde. Auch das darauffolgende Jahr in der christlichen Kreishauptschule Kolin und drei Jahre in der Prager deutschen Oberrealschule förderten, wie er später schrieb, seine naturwissenschaftliche Begabung und Neigung nur sehr wenig. Anschließend studierte er vier Jahre Mathematik, Physik und Technik am Prager deutschen Polytechnikum, konnte aber zwei ihm angebotene Stellungen als Assistent für Mathematik bzw. praktische Geometrie nur sehr kurzfristig bekleiden, weil das Konkordat zwischen dem Staat Österreich und der Katholischen Kirche die Anstellung jüdischer Wissenschaftler ausschloß. Da sich wegen Geldmangels auch der Plan, an das damals berühmte Karlsruhe Polytechnikum zu wechseln, zerschlug, mußte er nach zwei weiteren Studienjahren am Wiener Polytechnikum seinen Traum von einer wissenschaftlichen Laufbahn aufgeben und eine Stellung in der Wirtschaft suchen. Aber auch dort stieß er auf große Schwierigkeiten und bekam trotz glänzender Zeugnisse nur eine untergeordnete Position bei der Staatseisenbahngesellschaft. Im Herbst 1861 wurde er vertretungsweise in den Banat geschickt, wo er nach kurzer Zeit an Malaria erkrankte. Bald darauf verließ er den Eisenbahndienst und zog zurück zu seinen Eltern; dort kämpfte er ein Jahr lang mit der Krankheit.
Nach erfolglosen Versuchen, sich als Privatlehrer und Herausgeber einer Zeitungskorrespondenz durchzubringen, nahm er 1866 eine Hofmeisterstelle an, die ihm nebenher zwei Jahre lang Privatstudien in Nationalökonomie, Kulturgeschichte und Ästhetik sowie den Besuch der Wiener Universität gestattete. Aus dieser Zeit stammt auch die Freundschaft mit Ernst Mach. 1867 erfand er Einlagen für Dampfkessel, die ein Durchbrennen aufgrund von Verschmutzung und Kesselstein verhinderten, die Explosionsgefahr minderten und Brennstoff sparten. Nach anfänglichen Fehlschlägen ließen sie sich bald gut verkaufen, wobei er von seinem Bruder David unterstützt wurde. Die bei der Installation seiner Einlagen erforderliche schwere und gefährliche Arbeit ruinierte jedoch allmählich seine bereits angegriffene Gesundheit, so daß er 1897, im Alter von 59 Jahren, jede geschäftsmäßige technische Beschäftigung aufgab.
Allerdings erlaubten ihm diese und ähnliche kommerziell verwertbare Erfindungen nebenbei eine verstärkte Beschäftigung mit der Wissenschaft; neben vielen von ihm publizierten Arbeiten über mathematische und allgemein physikalische Probleme entstanden Artikel und Broschüren über die Luftschiffahrt und Elektrotechnik. Schon 1862 hatte er die Idee der Fernübertragung elektrischen Stroms, die erstmals öffentlich 1882 auf der Münchner elektrischen Ausstellung von Deprez realisiert wurde, in einem Schreiben an die Kaiserliche Akademie der Wissenschaften in Wien entworfen; es ist kaum bekannt, daß eigentlich Popper der Entdecker dieses Prinzips ist. Insgesamt wurden zwar viele seiner naturwissenschaftlichen Arbeiten publiziert, aber wegen seiner mangelnden Einbindung in den damaligen Wissenschaftsbetrieb wurden sie nur selten von den richtigen Leuten rezipiert, und eine eigene Realisierung technischer Projekte verhinderten zumeist der permanente Geldmangel und das Desinteresse der Umwelt. So ist der Naturwissenschaftler Popper weitgehend verkannt worden. Geradezu entgegengesetzt erging es ihm auf einem Gebiet, in dem er ‑ seiner eigenen Meinung und der seiner engsten Freunde zufolge ‑ absolut nicht zu Hause war: der Poesie. Zwischen 1865 und 1898 schrieb er ‑ zunächst ohne die Absicht, sie zu veröffentlichen ‑ in sonst unproduktiven Stunden ungefähr achtzig Erzählungen, die Phantasien eines Realisten. Zunächst von allen Verlegern abgelehnt und nach glücklicher Herausgabe weitgehend unbeachtet, wurden sie - dank einiger Verrisse, überschwenglich lobender Rezensionen und einer Konfiszierung aus "Sittlichkeitsgründen" in Österreich ‑ zu einem "Bestseller" mit 21 Auflagen bis 1922; der bisher letzte Nachdruck erfolgte 1980.
Auf nahezu einhellige Ablehnung seitens der Wissenschaft einerseits und begeisterte, tatkräftige Zustimmung vieler bürgerlicher Intellektueller andererseits stieß seine herausragende sozialreformerische Idee der allgemeinen Nährpflicht, deren Ansätze er erstmals 1878 in Das Recht zu leben und die Pflicht zu sterben veröffentlichte, in Das Individuum und die Bewertung menschlicher Existenzen vervollständigte und schließlich 1912 in der Allgemeinen Nährpflicht als Lösung der sozialen Frage - mit statistischen Daten unterlegt - endgültig formulierte. Sie war sein Lebenswerk und nach der Aufgabe der kommerziellen Verwertung seiner Erfindungen auch der hauptsächliche Lebensinhalt Poppers.
Weniger spektakulär war die Aufnahme seiner übrigen im weitesten Sinne sozialwissenschaftlich‑ethischen Ideen.
Schon in Das Recht zu leben und die Pflicht zu sterben stellte er seine Vorstellungen vom Wehrdienst dar, die in Krieg, Wehrpflicht und Staatsverfassung (1921) noch aus- gearbeitet wurden. Er plädierte dort für den freiwilligen Kriegsdienst, damit man keinen Menschen mehr zwingen könne, "sein Leben zu riskierenfür Zwecke oder Ideale, die nicht er hat, sondern die andere haben!" "Niemand sei es verwehrt, Krieg zu führen ‑ aber niemand darf dazu gezwungen werden. Wer durch seine Unterschrift dem Kriege zustimmt, muß in das aktive Heer eintreten, wer sich nicht meldet, an dem hat man kein Recht."
Realistischer, aber seiner Zeit weit voraus, war die in den beiden obengenannten Werken sowie in der Studie Fundament eines neuen Staatsrechts vorgeschlagene Reform des Strafrechts. Auch hier griff Popper nicht in Detailfragen und Einzelproblematiken ein, sondern er versuchte, die Grundlagen des damaligen Rechts ‑ Bestrafung, Sühne der Schuld und Rache ‑ zu ersetzen durch die Forderung nach Schutz der Gesellschaft vor Verbrechern. Dies meinte er, ohne jede Strafe, nur durch Information aller Bürger über die von einem Gericht festgestellten objektiven Tatbestände und deren Urheber, erreichen zu können; nur in seltenen Ausnahmefällen kam für ihn Freiheitsentzug in Frage. Seiner Vorstellung vom Zweck des Strafrechts ist man heute nahegekommen, allerdings nicht mit Hilfe seiner Methoden. Auch mit der Religion (u.a. in Über Religion, 1924) hat er sich beschäftigt insbesondere durch Vertiefung und Erweiterung des Gedankengutes von Voltaire, seines großen Ideals und Vorbilds, dem er 1905 ein eigenes Buch - Voltaire, Eine Charakteranalyse, in Verbindung mit Studien zur Ästhetik, Moral und Politik - widmete.
Aufgrund seiner jüdischen Abstammung, aber auch seiner moralischen Vorstellungen, ist Poppers Beschäftigung mit dem bereits damals herrschenden Antisemitismus ‑ die Greuel des Dritten Reiches waren nur die konsequente Durchführung von Vorstellungen, die um die Jahrhundertwende schon weitverbreitet waren ‑ zu erklären. In Fürst Bismarck und der Antisemitismus versuchte er 1886, "in ganz objektiver Weise die sogenannte Judenfrage zu besprechen, hatte also damals noch den Glauben, da, wo elementare Triebe herrschen, mit Anführung von Tatsachen und Argumenten auszukommen. Bald darauf erkannte ich meinen Irrtum" (aus seiner Selbstbiographie 1916/17).
Unerwartet und heute befremdend an diesem großen Humanisten und Menschenfreund sind sein Haß gegen England und seine Versuche zur Rechtfertigung des Ersten Weltkriegs in verschiedenen Vorkriegs‑ und Kriegsschriften. Auch ihn hat der spezifische Wahnsinn seiner Epoche erfaßt. Man erkennt ihn im Rückblick. Zur weiteren Verdeutlichung seiner Vielseitigkeit sei noch das 1886 erschienene Buch Die technischen Fortschritte nach ihrer ästhetischen und kulturellen Bedeutung erwähnt, eine frühe Technikfolgenabschätzung. Der Techniker und Erfinder Popper war ‑ eine Seltenheit in der "Gründerzeit" durchaus kein bedingungsloser Technikoptimist und Machbarkeitsprophet. Viele nachdenkliche Stellen seiner Schriften über den Sinn mancher "Fortschritte" muten überraschend modern und aktuell an. Aus seinen vielen Artikeln und Beiträgen zu den verschiedensten Gebieten sei nur noch ‑ seiner Skurrilität halber ‑ der Aufsatz Über den Zusammenhang zwischen Genie und Körpergröße von 1907 erwähnt, in dem (der mittelgroße "Sitzriese") Popper sogar formelmäßig die umgekehrte Proportionalität zwischen der Größe des Oberkörpers und der Intelligenz quantifizierte.
Popper war ein häuslicher und heimatverbundener Mensch; er hat Wien in den letzten drei Jahrzehnten seines Lebens nur anläßlich seltener Ferienaufenthalte verlassen, und auch vorher zwang ihn nur die kommerzielle Verwertung seiner Erfindungen zum Reisen. Er fand nie eine engere Beziehung zu Frauen, und die Heirat mit seiner langjährigen Haushälterin am Tage seines Todes erfolgte ausschließlich, um ihr das Wohnrecht in seiner Mansardenwohnung und sein Erbe zu sichern. Erst gegen Ende seines Lebens brachte ihm seine wachsende Bekanntheit auch finanzielle Erträge. Der Wiener Gemeinderat bewilligte ihm eine lebenslängliche Ehrenpension und bewirkte dadurch eine ‑ allerdings wegen der rasanten Geldentwertung nur vorübergehende ‑ Entlastung seiner angespannten finanziellen Verhältnisse.
Josef Popper‑Lynkeus starb am 22. Dezember 1921 im Alter von 83 Jahren und wurde in einem von der Israelitischen Kultusgemeinde Wiens bewilligten Ehrengrab beigesetzt. "Die Leichenfeier gestaltete sich zu einer imposanten Kundgebung des geistigen Wien für das Werk des großen Philosophen und Menschenfreundes, und die Zeremonienhalle des Zentralfriedhofs erwies sich als zu klein, um die große Zahl der Trauergäste aufzunehmen." schrieb die Wiener Morgenpost. Die Abschiedsworte Julius Ofners für Popper waren: "Seine Werke sind groß, aber größer war er als jedes seiner Werke." [Adolf Gelber: Josef Popper‑Lynkeus, Sein Leben und sein Wirken. Wien‑Berlin‑Leipzig‑New York 1922].
III
Poppers interessanteste und wichtigste Idee, die die meisten und vielfach entgegengesetzten Reaktionen auf sich gezogen hat, war die Forderung, eine allgemeine Nährpflicht (ähnlich der Wehrpflicht) einzuführen. Jeder Staatsbürger wird verpflichtet, im Rahmen einer sogenannten Nährarmee ohne Entlohnung über eine bestimmte Zeit hinweg, für die Ausstattung aller mit "Minimum‑Artikeln" zu arbeiten. Dafür wird er sein ganzes Leben lang mit diesen versorgt und kann, von ökonomischen Existenzsorgen frei, entweder in der Privatwirtschaft gegen Entlohnung oder als Unternehmer arbeiten oder sich sein Leben auf eine beliebige andere Weise gestalten. Unter "Minimum‑Artikeln" versteht Popper die zur Ernährung, Kleidung, Behausung, ärztlichen Versorgung und eventuell auch Erziehung notwendigen Produkte bzw. Dienstleistungen und außerdem einen gewissen Geldbetrag zur Erfüllung nicht‑normierbarer Grundbedürfnisse ("Kultur"). Alle auf dem Minimum‑Sektor tätigen Unternehmen sollen verstaatlicht sein, während die anderen weiter im privaten Besitz verbleiben können. Die außerhalb der Minimum‑Fürsorge liegenden Staatsinteressen (z.B. Post, Bildung) betreibt der Staat ebenso wie ein Privatunternehmer; die dafür benötigten Arbeitskräfte werden nach Ablauf ihrer Nährpflichtzeit eingestellt und normal (wie in der Privatwirtschaft) bezahlt. Das gilt auch für jeden, der nach Ablauf der Pflichtzeit weiterhin in der Nährarmee dienen will. Es ergibt sich die für sein System charakteristische Drei‑Sektoren‑Wirtschaft, die den Minimum‑Sektor, den sonstigen Staatssektor und die Privatwirtschaft umfaßt.
Bei der Minimum‑Versorgung handelt es sich ‑ wenn man vom Kulturbereich absieht, der nicht normierbar ist ‑ um Naturalversorgung. Die Produktion soll vom Ausland möglichst unabhängig sein, da ihr Funktionieren unter allen Umständen ‑ also z.B. auch im Krieg oder während Handelskrisen ‑ gewährleistet sein muß. Eventuell im Inland nicht her- stellbare Minimum-Güter sollen vom Staat im Austausch entweder gegen überschüssige Produkte des Minimum‑Sektors oder gegen solche spezieller verstaatlichter Exportindustrien (die dann auch zum Minimum‑Sektor gehören müssen) importiert werden. Für den Fall, daß die Bevölkerung schneller wächst als die Produktion, oder falls es auf irgendeine andere Weise vorkommt, daß nicht alle Staatsbürger mit dem Notwendigsten versorgt werden können, sollen alle auf gleiche Weise darben.
Diese Versorgung soll ausnahmslos jedem zugute kommen, unabhängig davon, ob die Dienstzeit abgeleistet wurde oder ‑ etwa wegen Untauglichkeit ‑ nicht. Ein freiwilliger Verzicht ‑ der allerdings nicht von der Nährpflicht befreit ‑ ist möglich, etwa für erfolgreiche Unternehmer und andere, die "es nicht nötig" haben; er kann allerdings jederzeit widerrufen werden.
Dieses Programm prüft Propper im Hinblick auf seine ökonomische Realisierbarkeit mit Berechnungen und Statistiken des Deutschen Reiches aus der Zeit der Jahrhundertwende. Als Basis benutzt er Volks‑ und Berufszählungen sowie Produktions‑ und Verwendungsstatistiken, Berechnungen über die menschlichen Existenznotwendigkeiten sowie eigene Abschätzungen über die gesellschaftlichen Bedürfnisse im "Definitivum", d.h. in der angestrebten Gesellschaft, in der seine allgemeine Nährpflicht verwirklicht ist. So errechnet er z. B. für Männer eine Dienstzeit in der Nährarmee von 13 Jahren und für Frauen von 8 Jahren bei einer täglichen Arbeitszeit von 7 bis 7,5 Stunden.
Grundlegend für Poppers Programm sind seine Vorstellungen von Gerechtigkeit, Menschenwürde und Organisation der Gesellschaft, die er in der Allgemeinen Nährpflicht an vielen Stellen darlegt. Stellvertretend dafür seien die folgenden aufgeführt:
- "Wir müssen uns alle wie eine große Familie betrachten, in der jeder ökonomisch gesichert wird, und in der jeder Fähige mitarbeiten muß, um das Notwendige herbeizuschaffen".
- "Jenes Grundgefühl nun verlangt die Verpflichtung aller, jedem, ohne Ausnahme, die notwendige Lebenshaltung zu sichern".
- "Gleichheit in der allgemeinen, wirklichen Not oder in der Furcht vor Not ‑ bei allen Menschen ohne Ausnahme ‑ ist eine der wichtigsten Verkörperungen des Gleichheits‑ und Gerechtigkeitsprinzips".
"Es darf also in einer gesitteten Gesellschaft, falls die Nahrungsmittel knapp werden, ein reicher und selbst der reichste Mensch nicht den Vorzug vor den anderen genießen, sich sättigen zu können, während diese darben". - "So lange es vorkommt, daß auch nur ein einziger Mensch hungert oder in seiner Lebenshaltung nicht gesichert ist, so lange taugt die ganze Gesellschaftsordnung nichts".
- "Denn hoch steht die im ökonomischen Gebiete zu erreichende Garantie der physischen Existenz und des sorglosen Daseins schon eines einzigen Individuums‑ es sei welches immer ‑ über allen feinen, schönen oder edlen Zielen, selbst von Millionen Menschen".
- "Wenn irgendein, selbst noch so unbedeutendes Individuum, das keines anderen Leben mit Absicht gefährdet, ohne oder gar wider seinen Willen aus der Welt verschwindet, so ist das ein ungleich wichtigeres Ereignis als alle politischen, religiösen und nationalen Ereignisse und als sämtliche wissenschaftlichen, künstlerischen und technischen Fortschritte aller Jahrhunderte und aller Völkerzusammengenommen. Wer das für Übertreibung hält, der möge nur denken, er.selbst oder eine von ihm geliebte Person wäre jenes Individuum ‑ und sofort wird er es verstehen und glauben."
Robert Plank nennt Popper den "unbedenklichsten aller Rationalisten" [Robert Plank: Josef Popper‑Lynkeus, der Gesellschaftsingenieur. Wien 1938, S. 6.]. Friedrich Löw erkennt in ihm den Widerspruch zwischen dem Deterministen und Naturwissenschaftler einerseits und dem gefühlsbetonten Juden, der von der Aufklärung den "verabsolutierten" Begriff des Individuums übernimmt, andererseits: "ln seiner Ethik muß er nun notgedrungen eine Synthese zwischen diesen Widersprüchen des naturwissenschaftlich‑soziologischen Erkennens und des Fühlens herzustellen versuchen, eine Synthese, die . . . deutlich zeigt, daß fast überall das durch die soziale Lagerung bedingte Gefühl über das bessere Wissen mehr oder minder stark die Oberhand behält [Friedrich Löw: Josef Popper‑Lynkeus, Versuch einer Darstellung und Kritik seiner sozialethischen Forderungen und seines Wirtschaftsprogramms (Diss.). Frankfurt am Main 1925, S. 48f.]. Seine Herkunft, sein Beruf (als Ingenieur und Erfinder nahm er an der Entwicklung arbeitssparender Technologie teil) und seine bourgeoise Lebensweise hinderten ihn einerseits daran, sich zum Klassenkampf der Arbeiterschaft zu bekennen, andererseits konnte er "sich im alten Österreich des 19. Jahrhunderts, diese(m) Feudalstaat mit konstitutioneller Maske, nicht zur herrschenden Klasse zugehörig fühlen." Also "schuf Popper in seiner Ethik die Ideologie der intellektuellen Mittelklasse", die "vom Staat Schutz ihrer Interessen und Gerechtigkeit" [Friedrich Löw: Josef Popper‑Lynkeus, Versuch einer Darstellung und Kritik seiner sozialethischen Forderungen und seines Wirtschaftsprogramms (Diss.). Frankfurt am Main 1925, .S. 54 - 55. ] fordert.
Poppers Ausgangspunkt ist normativ; damit entbehrt er der Möglichkeit wissenschaftlicher Überprüfung. Jedoch ist er durch Konvention weitestgehend anerkannt. Das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland mißt dem staatlichen Schutz und der staatlichen Sorge für die Aufrechterhaltung der Würde des Menschen ‑ die auch die Sicherung eines konventionellen Existenzminimums mit umfaßt ‑ den höchsten Rang bei. Die allgemeine Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen von 1944 proklamiert ein Grundrecht auf ärztliche Betreuung, Nahrung, Kleidung, Wohnung, Bildung, soziale Sicherheit und Erholung, also auf jene "Minimum‑Artikel", deren ausreichende Produktion und gleichmäßige Verteilung auch das Grundanliegen Poppers war.
Selbst in hochentwickelten Industrieländern ist dieses Ziel noch nicht erreicht, sonst hätte die neu entflammte Diskussion um die "Armut" in den USA, in den Ländern der Europäischen Gemeinschaft und in der Bundesrepublik keine so breite Resonanz gefunden. Und der Hunger in der Dritten Welt ‑ als grausamster Indikator einer massenhaften Armut und Beeinträchtigung der Menschenwürde ‑ bedroht weiterhin Hunderte von Millionen Menschen.
Es erscheint wünschenswert, möglichst wenig Zwang auf den Menschen auszuüben. Wenn allerdings keine andere Möglichkeit besteht, dann sollte ein System eingesetzt werden, das die wirtschaftliche Freiheit nur soweit einschränkt, wie es für die Befriedigung der Mindestbedürfnisse erforderlich ist. Genau dies scheint die Leistung von Poppers Nährpflicht‑Programm zu sein. In einer Welt, in der bitterste Armut und Hunger nur wenige Flugstunden entfernt von krassem Reichtum und Verschwendung existieren können, in der fast nur noch die Resignation und das angstvolle Warten auf eine darwinistische Lösung übrigbleiben ‑ denn die Zeit der hoffnungsvollen Theorien ist vorbei ‑, zeigt uns das hundert Jahre alte Programm des Sozialreformers Josef Popper einen unkonventionellen Weg. Wir sollten uns vorurteilsfrei mit ihm beschäftigen.
Josef Popper hat ‑ ausgehend von seinen ethischen Postulaten ‑ mit den Mitteln seiner Zeit Wege aufzeigen wollen, wie den Problemen beizukommen wäre. Inzwischen haben sich die bestimmenden Faktoren geändert: Bevölkerungsexplosion, Technischer Fortschritt, Aufkommen des Wohlfahrtsstaats, Verflechtung der Weltwirtschaft, weltweite Umweltge- fährdung, kriegerisches Zerstörungspotential in vielfacher Overkill‑ Größenordnung, aber auch kulturelle Verschiebungen und der Übergang zu einer multikulturellen, multizen- trischen und postmodernen Weltgesellschaft mit unterschiedlichen, sich gegenseitig beein- flussenden Staatssystemen mögen als Stichworte genügen. In dieser veränderten Umwelt stellt sich das Problem der "Nährpflicht", d.h. der Sicherung des Existenzminimums für alle in anderer Form. Im Sinne Poppers gilt es hierfür neue, wissenschaftlich fundierte Lösungen zu entwickeln und in den politischen Diskussionsprozeß einzubringen.
Bemerkung: Die genannten Werke Poppers werden in den bibliographischen Angaben nachgewiesen.