Ingenieur und Schriftsteller aus Kolin in Böhmen
geboren am 21. Februar 1838
gestorben am 22. Dezember 1921

von Martin Rosebrock

I

Ehrengrab der jüdischen Kultusgemeinde auf dem Wiener Zentralfriedhof für Josef Popper-Lynkeus (Photo: Chr. Dreier)

"Josef Popper-Lynkeus
Ingenieur und Schriftsteller
aus Kolin in Böhmen
geboren am 21. Februar 1838
gestorben am 22. Dezember 1921"
   

Unter einem Grabstein mit dieser Überschrift ruhen auf dem Wiener Zen­tralfriedhof die sterblichen Überreste von Josef Popper, einem der originell­sten und vielseitigsten Denker seiner Zeit. Obwohl er damals von der insti­tutionalisierte Wissenschaft wenig zur Kenntnis genommen und auch in der Öffentlichkeit sein Name fast ausschließlich mit seinen Erzählungen "Phantasien eines Realisten" verbunden wurde (das zur Herausgabe die­ses Buches verwendete Pseudonym "Lynkeus" wurde seitdem zum festen Bestandteil seines Namens, denn er meinte, weiter sehen zu können als an­dere, wie der scharfsichtige Steuermann der Argonauten oder wie der Turmwär­ter aus Goethes Faust), hat er auf diejenigen, die näher mit ihm oder seinen Ideen in Berührung gekommen sind, einen unauslöschlichen Eindruck ge­macht. Das inzwischen vergangene Jahrhundert hat zwar die Aktualität sei­ner Werke gemindert, ihnen aber nicht ihre Faszination rauben können.

Josef Popper hat sich, neben seiner Brotarbeit als Ingenieur und Erfinder, insbesondere mit sozialwissenschaftlichen Fragen beschäftigt, aber auch mathematische und physikalische Aufsätze veröffentlicht. Er hatte Kontakt mit Sigmund Freud, der in einer der "Phantasien" eine Grundthese seiner Traumdeutung entdeckte. Albert Einstein, die Mathematiker Richard von Mises und Otto Neurath, der Religionsphilosoph Martin Buber, Hermann Bahr, Arthur Schnitzler und Stefan Zweig ‑ um nur die heute noch allgemein bekannten Namen zu nennen ‑ fanden sich zu Besuchen in seiner beschei­den‑kleinbürgerlichen Wohnung in der Woltergasse in Wien‑Hietzing ein; Ernst Mach war einer seiner engen Freunde. Dazu kommen noch zahlreiche Persönlichkeiten, die zu ihrer Zeit und in ihrem Wirkungskreis Einfluß und Ansehen besaßen.

1918 entstand anläßlich seines überall im deutschsprachigen Raum beach­teten und gefeierten 80. Geburtstags ein Verein "Allgemeine Nährpflicht" zur Verbreitung und Einführung von Poppers wichtigstem sozialreformeri­schem Anliegen. Ihm machten erst die Nationalsozialisten 1938 ein Ende, nachdem sie zunächst versucht hatten, Poppers Idee als philosophische Verbrämung ihres Arbeitsdienstes zu vereinnahmen.
Dafür fand sie indirekt - hauptsächlich über Max Brod (von dem das fol­gende Zitat stammt) Eingang in die den Staat Israel konstituierende Ideenwelt als "die erwünschte Grundlage eines jüdischen und allmenschli­chen Sozialismus".

II

"lch bin am 21. Februar 1838 in Kolin in Böhmen von jüdischen Eltern gebo­ren, und im Ghetto bis zu meinem 15. Jahre aufgewachsen. lch hatte vier Brüder, von denen drei schon als Kinder starben und der eine, der älteste von uns, im Jahre 1896 starb." So beginnt die kurze Selbstbiographie von Josef Popper‑Lynkeus, und diese wenigen Worte verraten viel von der Ar­mut und dem Elend, die seine Jugend kennzeichneten.

Das Geburtshaus Josef Poppers in Kolin

Photo: H. Kubrt;
Wiedergabe mit freundlicher Genehmigung des Archiv bri J. L. Kamarytu, Kolin
   

Bis zum Alter von 12 Jahren besuchte er die jüdische Schule des Ghettos, in der der größte Teil der Lehrstunden mit hebräischer Grammatik und Lek­türe der Bibel ausgefüllt wurde. Auch das darauffolgende Jahr in der christ­lichen Kreishauptschule Kolin und drei Jahre in der Prager deutschen Ober­realschule förderten, wie er später schrieb, seine naturwissenschaftliche Begabung und Neigung nur sehr wenig. Anschließend studierte er vier Jahre Mathematik, Physik und Technik am Prager deutschen Polytechni­kum, konnte aber zwei ihm angebotene Stellungen als Assistent für Mathe­matik bzw. praktische Geometrie nur sehr kurzfristig bekleiden, weil das Konkordat zwischen dem Staat Österreich und der Katholischen Kirche die Anstellung jüdischer Wissenschaftler ausschloß. Da sich wegen Geldmangels auch der Plan, an das damals berühmte Karls­ruhe Polytechnikum zu wechseln, zerschlug, mußte er nach zwei weiteren Studienjahren am Wiener Polytechnikum seinen Traum von einer wissen­schaftlichen Laufbahn aufgeben und eine Stellung in der Wirtschaft su­chen. Aber auch dort stieß er auf große Schwierigkeiten und bekam trotz glänzender Zeugnisse nur eine untergeordnete Position bei der Staats­eisenbahngesellschaft. Im Herbst 1861 wurde er vertretungsweise in den Banat geschickt, wo er nach kurzer Zeit an Malaria erkrankte. Bald darauf verließ er den Eisenbahndienst und zog zurück zu seinen Eltern; dort kämpfte er ein Jahr lang mit der Krankheit.

Nach erfolglosen Versuchen, sich als Privatlehrer und Herausgeber einer Zeitungskorrespondenz durchzubringen, nahm er 1866 eine Hofmeister­stelle an, die ihm nebenher zwei Jahre lang Privatstudien in Nationalökono­mie, Kulturgeschichte und Ästhetik sowie den Besuch der Wiener Universi­tät gestattete. Aus dieser Zeit stammt auch die Freundschaft mit Ernst Mach. 1867 erfand er Einlagen für Dampfkessel, die ein Durchbrennen aufgrund von Ver­schmutzung und Kesselstein verhinderten, die Explosionsgefahr minder­ten und Brennstoff sparten. Nach anfänglichen Fehlschlägen ließen sie sich bald gut verkaufen, wobei er von seinem Bruder David unterstützt wurde. Die bei der Installation seiner Einlagen erforderliche schwere und gefährli­che Arbeit ruinierte jedoch allmählich seine bereits angegriffene Gesund­heit, so daß er 1897, im Alter von 59 Jahren, jede geschäftsmäßige techni­sche Beschäftigung aufgab.

Allerdings erlaubten ihm diese und ähnliche kommerziell verwertbare Erfin­dungen nebenbei eine verstärkte Beschäftigung mit der Wissenschaft; ne­ben vielen von ihm publizierten Arbeiten über mathematische und allge­mein physikalische Probleme entstanden Artikel und Broschüren über die Luftschiffahrt und Elektrotechnik. Schon 1862 hatte er die Idee der Fern­übertragung elektrischen Stroms, die erstmals öffentlich 1882 auf der Münchner elektrischen Ausstellung von Deprez realisiert wurde, in einem Schreiben an die Kaiserliche Akademie der Wissenschaften in Wien entwor­fen; es ist kaum bekannt, daß eigentlich Popper der Entdecker dieses Prin­zips ist. Insgesamt wurden zwar viele seiner naturwissenschaftlichen Arbeiten pu­bliziert, aber wegen seiner mangelnden Einbindung in den damaligen Wis­senschaftsbetrieb wurden sie nur selten von den richtigen Leuten rezipiert, und eine eigene Realisierung technischer Projekte verhinderten zumeist der permanente Geldmangel und das Desinteresse der Umwelt. So ist der Naturwissenschaftler Popper weitgehend verkannt worden. Geradezu entgegengesetzt erging es ihm auf einem Gebiet, in dem er ‑ sei­ner eigenen Meinung und der seiner engsten Freunde zufolge ‑ absolut nicht zu Hause war: der Poesie. Zwischen 1865 und 1898 schrieb er ‑ zu­nächst ohne die Absicht, sie zu veröffentlichen ‑ in sonst unproduktiven Stunden ungefähr achtzig Erzählungen, die Phantasien eines Realisten. Zunächst von allen Verlegern abgelehnt und nach glücklicher Herausgabe weitgehend unbeachtet, wurden sie - dank einiger Verrisse, überschweng­lich lobender Rezensionen und einer Konfiszierung aus "Sittlichkeitsgrün­den" in Österreich ‑ zu einem "Bestseller" mit 21 Auflagen bis 1922; der bis­her letzte Nachdruck erfolgte 1980.

Auf nahezu einhellige Ablehnung seitens der Wissenschaft einerseits und begeisterte, tatkräftige Zustimmung vieler bürgerlicher Intellektueller ande­rerseits stieß seine herausragende sozialreformerische Idee der allgemei­nen Nährpflicht, deren Ansätze er erstmals 1878 in Das Recht zu leben und die Pflicht zu sterben veröffentlichte, in Das Individuum und die Bewertung menschlicher Existenzen vervollständigte und schließlich 1912 in der Allge­meinen Nährpflicht als Lösung der sozialen Frage - mit statistischen Daten unterlegt - endgültig formulierte. Sie war sein Lebenswerk und nach der Aufgabe der kommerziellen Verwertung seiner Erfindungen auch der hauptsächliche Lebensinhalt Poppers.

Weniger spektakulär war die Aufnahme seiner übrigen im weitesten Sinne sozialwissenschaftlich‑ethischen Ideen.

Schon in Das Recht zu leben und die Pflicht zu sterben stellte er seine Vor­stellungen vom Wehrdienst dar, die in Krieg, Wehrpflicht und Staatsverfas­sung (1921) noch aus- gearbeitet wurden. Er plädierte dort für den freiwilligen Kriegsdienst, damit man keinen Menschen mehr zwingen könne, "sein Leben zu riskierenfür Zwecke oder Ideale, die nicht er hat, sondern die an­dere haben!" "Niemand sei es verwehrt, Krieg zu führen ‑ aber niemand darf dazu gezwungen werden. Wer durch seine Unterschrift dem Kriege zu­stimmt, muß in das aktive Heer eintreten, wer sich nicht meldet, an dem hat man kein Recht."

Realistischer, aber seiner Zeit weit voraus, war die in den beiden obenge­nannten Werken sowie in der Studie Fundament eines neuen Staatsrechts vorgeschlagene Reform des Strafrechts. Auch hier griff Popper nicht in De­tailfragen und Einzelproblematiken ein, sondern er versuchte, die Grundla­gen des damaligen Rechts ‑ Bestrafung, Sühne der Schuld und Rache ‑ zu ersetzen durch die Forderung nach Schutz der Gesellschaft vor Verbre­chern. Dies meinte er, ohne jede Strafe, nur durch Information aller Bürger über die von einem Gericht festgestellten objektiven Tatbestände und de­ren Urheber, erreichen zu können; nur in seltenen Ausnahmefällen kam für ihn Freiheitsentzug in Frage. Seiner Vorstellung vom Zweck des Strafrechts ist man heute nahegekommen, allerdings nicht mit Hilfe seiner Methoden. Auch mit der Religion (u.a. in Über Religion, 1924) hat er sich beschäftigt insbesondere durch Vertiefung und Erweiterung des Gedankengutes von Voltaire, seines großen Ideals und Vorbilds, dem er 1905 ein eigenes Buch - Voltaire, Eine Charakteranalyse, in Verbindung mit Studien zur Ästhetik, Moral und Politik - widmete.

Aufgrund seiner jüdischen Abstammung, aber auch seiner moralischen Vor­stellungen, ist Poppers Beschäftigung mit dem bereits damals herrschen­den Antisemitismus ‑ die Greuel des Dritten Reiches waren nur die konse­quente Durchführung von Vorstellungen, die um die Jahrhundertwende schon weitverbreitet waren ‑ zu erklären. In Fürst Bismarck und der Antise­mitismus versuchte er 1886, "in ganz objektiver Weise die sogenannte Ju­denfrage zu besprechen, hatte also damals noch den Glauben, da, wo ele­mentare Triebe herrschen, mit Anführung von Tatsachen und Argumenten auszukommen. Bald darauf erkannte ich meinen Irrtum" (aus seiner Selbst­biographie 1916/17).

Unerwartet und heute befremdend an diesem großen Humanisten und Menschenfreund sind sein Haß gegen England und seine Versuche zur Rechtfertigung des Ersten Weltkriegs in verschiedenen Vorkriegs‑ und Kriegsschriften. Auch ihn hat der spezifische Wahnsinn seiner Epoche er­faßt. Man erkennt ihn im Rückblick. Zur weiteren Verdeutlichung seiner Vielseitigkeit sei noch das 1886 erschie­nene Buch Die technischen Fortschritte nach ihrer ästhetischen und kultu­rellen Bedeutung erwähnt, eine frühe Technikfolgenabschätzung. Der Tech­niker und Erfinder Popper war ‑ eine Seltenheit in der "Gründerzeit" ­durchaus kein bedingungsloser Technikoptimist und Machbarkeitspro­phet. Viele nachdenkliche Stellen seiner Schriften über den Sinn mancher "Fortschritte" muten überraschend modern und aktuell an. Aus seinen vielen Artikeln und Beiträgen zu den verschiedensten Gebieten sei nur noch ‑ seiner Skurrilität halber ‑ der Aufsatz Über den Zusammen­hang zwischen Genie und Körpergröße von 1907 erwähnt, in dem (der mit­telgroße "Sitzriese") Popper sogar formelmäßig die umgekehrte Proportio­nalität zwischen der Größe des Oberkörpers und der Intelligenz quantifi­zierte.

Popper war ein häuslicher und heimatverbundener Mensch; er hat Wien in den letzten drei Jahrzehnten seines Lebens nur anläßlich seltener Ferien­aufenthalte verlassen, und auch vorher zwang ihn nur die kommerzielle Ver­wertung seiner Erfindungen zum Reisen. Er fand nie eine engere Beziehung zu Frauen, und die Heirat mit seiner langjährigen Haushälterin am Tage sei­nes Todes erfolgte ausschließlich, um ihr das Wohnrecht in seiner Mansar­denwohnung und sein Erbe zu sichern. Erst gegen Ende seines Lebens brachte ihm seine wachsende Bekanntheit auch finanzielle Erträge. Der Wiener Gemeinderat bewilligte ihm eine le­benslängliche Ehrenpension und bewirkte dadurch eine ‑ allerdings wegen der rasanten Geldentwertung nur vorübergehende ‑ Entlastung seiner an­gespannten finanziellen Verhältnisse.

Josef Popper‑Lynkeus starb am 22. Dezember 1921 im Alter von 83 Jahren und wurde in einem von der Israelitischen Kultusgemeinde Wiens bewillig­ten Ehrengrab beigesetzt. "Die Leichenfeier gestaltete sich zu einer impo­santen Kundgebung des geistigen Wien für das Werk des großen Philoso­phen und Menschenfreundes, und die Zeremonienhalle des Zentralfried­hofs erwies sich als zu klein, um die große Zahl der Trauergäste aufzuneh­men." schrieb die Wiener Morgenpost. Die Abschiedsworte Julius Ofners für Popper waren: "Seine Werke sind groß, aber größer war er als jedes sei­ner Werke." [Adolf Gelber: Josef Popper‑Lynkeus, Sein Leben und sein Wirken. Wien‑Berlin‑Leipzig‑New York 1922].


III


Poppers interessanteste und wichtigste Idee, die die meisten und vielfach entgegengesetzten Reaktionen auf sich gezogen hat, war die Forderung, eine allgemeine Nährpflicht (ähnlich der Wehrpflicht) einzuführen. Jeder Staatsbürger wird verpflichtet, im Rahmen einer sogenannten Nährarmee ohne Entlohnung über eine bestimmte Zeit hinweg, für die Ausstattung aller mit "Minimum‑Artikeln" zu arbeiten. Dafür wird er sein ganzes Leben lang mit diesen versorgt und kann, von ökonomischen Existenzsorgen frei, ent­weder in der Privatwirtschaft gegen Entlohnung oder als Unternehmer ar­beiten oder sich sein Leben auf eine beliebige andere Weise gestalten. Un­ter "Minimum‑Artikeln" versteht Popper die zur Ernährung, Kleidung, Be­hausung, ärztlichen Versorgung und eventuell auch Erziehung notwendi­gen Produkte bzw. Dienstleistungen und außerdem einen gewissen Geldbetrag zur Erfüllung nicht‑normierbarer Grundbedürfnisse ("Kultur"). Alle auf dem Minimum‑Sektor tätigen Unternehmen sollen verstaatlicht sein, während die anderen weiter im privaten Besitz verbleiben können. Die au­ßerhalb der Minimum‑Fürsorge liegenden Staatsinteressen (z.B. Post, Bil­dung) betreibt der Staat ebenso wie ein Privatunternehmer; die dafür benö­tigten Arbeitskräfte werden nach Ablauf ihrer Nährpflichtzeit eingestellt und normal (wie in der Privatwirtschaft) bezahlt. Das gilt auch für jeden, der nach Ablauf der Pflichtzeit weiterhin in der Nährarmee dienen will. Es ergibt sich die für sein System charakteristische Drei‑Sektoren‑Wirtschaft, die den Minimum‑Sektor, den sonstigen Staatssektor und die Privatwirtschaft umfaßt.

Bei der Minimum‑Versorgung handelt es sich ‑ wenn man vom Kulturbe­reich absieht, der nicht normierbar ist ‑ um Naturalversorgung. Die Produk­tion soll vom Ausland möglichst unabhängig sein, da ihr Funktionieren un­ter allen Umständen ‑ also z.B. auch im Krieg oder während Handelskrisen ‑ gewährleistet sein muß. Eventuell im Inland nicht her- stellbare Minimum-Güter sollen vom Staat im Austausch entweder gegen überschüssige Pro­dukte des Minimum‑Sektors oder gegen solche spezieller verstaatlichter Exportindustrien (die dann auch zum Minimum‑Sektor gehören müssen) importiert werden. Für den Fall, daß die Bevölkerung schneller wächst als die Produktion, oder falls es auf irgendeine andere Weise vorkommt, daß nicht alle Staatsbürger mit dem Notwendigsten versorgt werden können, sollen alle auf gleiche Weise darben.

Diese Versorgung soll ausnahmslos jedem zugute kommen, unabhängig davon, ob die Dienstzeit abgeleistet wurde oder ‑ etwa wegen Untauglich­keit ‑ nicht. Ein freiwilliger Verzicht ‑ der allerdings nicht von der Nähr­pflicht befreit ‑ ist möglich, etwa für erfolgreiche Unternehmer und andere, die "es nicht nötig" haben; er kann allerdings jederzeit widerrufen werden.

Dieses Programm prüft Propper im Hinblick auf seine ökonomische Reali­sierbarkeit mit Berechnungen und Statistiken des Deutschen Reiches aus der Zeit der Jahrhundertwende. Als Basis benutzt er Volks‑ und Berufszäh­lungen sowie Produktions‑ und Verwendungsstatistiken, Berechnungen über die menschlichen Existenznotwendigkeiten sowie eigene Abschät­zungen über die gesellschaftlichen Bedürfnisse im "Definitivum", d.h. in der angestrebten Gesellschaft, in der seine allgemeine Nährpflicht verwirklicht ist. So errechnet er z. B. für Männer eine Dienstzeit in der Nährarmee von 13 Jahren und für Frauen von 8 Jahren bei einer täglichen Arbeitszeit von 7 bis 7,5 Stunden.

Grundlegend für Poppers Programm sind seine Vorstellungen von Gerech­tigkeit, Menschenwürde und Organisation der Gesellschaft, die er in der Allgemeinen Nährpflicht an vielen Stellen darlegt. Stellvertretend dafür seien die folgenden aufgeführt:

  • "Wir müssen uns alle wie eine große Familie betrachten, in der jeder öko­nomisch gesichert wird, und in der jeder Fähige mitarbeiten muß, um das Notwendige herbeizuschaffen".
  • "Jenes Grundgefühl nun verlangt die Verpflichtung aller, jedem, ohne Ausnahme, die notwendige Lebenshaltung zu sichern".
  • "Gleichheit in der allgemeinen, wirklichen Not oder in der Furcht vor Not ‑ bei allen Menschen ohne Ausnahme ‑ ist eine der wichtigsten Verkör­perungen des Gleichheits‑ und Gerechtigkeitsprinzips".
    "Es darf also in einer gesitteten Gesellschaft, falls die Nahrungsmittel knapp werden, ein reicher und selbst der reichste Mensch nicht den Vor­zug vor den anderen genießen, sich sättigen zu können, während diese darben".
  • "So lange es vorkommt, daß auch nur ein einziger Mensch hungert oder in seiner Lebenshaltung nicht gesichert ist, so lange taugt die ganze Ge­sellschaftsordnung nichts".
  • "Denn hoch steht die im ökonomischen Gebiete zu erreichende Garantie der physischen Existenz und des sorglosen Daseins schon eines einzi­gen Individuums‑ es sei welches immer ‑ über allen feinen, schönen oder edlen Zielen, selbst von Millionen Menschen".
  • "Wenn irgendein, selbst noch so unbedeutendes Individuum, das keines anderen Leben mit Absicht gefährdet, ohne oder gar wider seinen Willen aus der Welt verschwindet, so ist das ein ungleich wichtigeres Ereignis als alle politischen, religiösen und nationalen Ereignisse und als sämtli­che wissenschaftlichen, künstlerischen und technischen Fortschritte aller Jahrhunderte und aller Völkerzusammengenommen. Wer das für Über­treibung hält, der möge nur denken, er.selbst oder eine von ihm geliebte Person wäre jenes Individuum ‑ und sofort wird er es verstehen und glauben."­



Robert Plank nennt Popper den "unbedenklichsten aller Rationalisten" [Robert Plank: Josef Popper‑Lynkeus, der Gesellschaftsingenieur. Wien 1938, S. 6.]. Friedrich Löw erkennt in ihm den Widerspruch zwischen dem Determini­sten und Naturwissenschaftler einerseits und dem gefühlsbetonten Juden, der von der Aufklärung den "verabsolutierten" Begriff des Individuums übernimmt, andererseits: "ln seiner Ethik muß er nun notgedrungen eine Synthese zwischen diesen Widersprüchen des naturwissenschaftlich‑so­ziologischen Erkennens und des Fühlens herzustellen versuchen, eine Syn­these, die . . . deutlich zeigt, daß fast überall das durch die soziale Lagerung bedingte Gefühl über das bessere Wissen mehr oder minder stark die Ober­hand behält [Friedrich Löw: Josef Popper‑Lynkeus, Versuch einer Darstellung und Kritik seiner sozialethi­schen Forderungen und seines Wirtschaftsprogramms (Diss.). Frankfurt am Main 1925, S. 48f.]. Seine Herkunft, sein Beruf (als Ingenieur und Erfinder nahm er an der Entwicklung arbeitssparender Technologie teil) und seine bour­geoise Lebensweise hinderten ihn einerseits daran, sich zum Klassen­kampf der Arbeiterschaft zu bekennen, andererseits konnte er "sich im al­ten Österreich des 19. Jahrhunderts, diese(m) Feudalstaat mit konstitutio­neller Maske, nicht zur herrschenden Klasse zugehörig fühlen." Also "schuf Popper in seiner Ethik die Ideologie der intellektuellen Mittelklasse", die "vom Staat Schutz ihrer Interessen und Gerechtigkeit" [Friedrich Löw: Josef Popper‑Lynkeus, Versuch einer Darstellung und Kritik seiner sozialethi­schen Forderungen und seines Wirtschaftsprogramms (Diss.). Frankfurt am Main 1925, .S. 54 - 55. ] fordert.

Poppers Ausgangspunkt ist normativ; damit entbehrt er der Möglichkeit wissenschaftlicher Überprüfung. Jedoch ist er durch Konvention weitest­gehend anerkannt. Das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland mißt dem staatlichen Schutz und der staatlichen Sorge für die Aufrechter­haltung der Würde des Menschen ‑ die auch die Sicherung eines konven­tionellen Existenzminimums mit umfaßt ‑ den höchsten Rang bei. Die allge­meine Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen von 1944 pro­klamiert ein Grundrecht auf ärztliche Betreuung, Nahrung, Kleidung, Woh­nung, Bildung, soziale Sicherheit und Erholung, also auf jene "Minimum‑Ar­tikel", deren ausreichende Produktion und gleichmäßige Verteilung auch das Grundanliegen Poppers war.

Selbst in hochentwickelten Industrieländern ist dieses Ziel noch nicht er­reicht, sonst hätte die neu entflammte Diskussion um die "Armut" in den USA, in den Ländern der Europäischen Gemeinschaft und in der Bundesre­publik keine so breite Resonanz gefunden. Und der Hunger in der Dritten Welt ‑ als grausamster Indikator einer massenhaften Armut und Beein­trächtigung der Menschenwürde ‑ bedroht weiterhin Hunderte von Millio­nen Menschen.
Es erscheint wünschenswert, möglichst wenig Zwang auf den Menschen auszuüben. Wenn allerdings keine andere Möglichkeit besteht, dann sollte ein System eingesetzt werden, das die wirtschaftliche Freiheit nur soweit einschränkt, wie es für die Befriedigung der Mindestbedürfnisse erforder­lich ist. Genau dies scheint die Leistung von Poppers Nährpflicht‑Pro­gramm zu sein. In einer Welt, in der bitterste Armut und Hunger nur wenige Flugstunden entfernt von krassem Reichtum und Verschwendung existie­ren können, in der fast nur noch die Resignation und das angstvolle Warten auf eine darwinistische Lösung übrigbleiben ‑ denn die Zeit der hoffnungs­vollen Theorien ist vorbei ‑, zeigt uns das hundert Jahre alte Programm des Sozialreformers Josef Popper einen unkonventionellen Weg. Wir sollten uns vorurteilsfrei mit ihm beschäftigen.

Josef Popper hat ‑ ausgehend von seinen ethischen Postulaten ‑ mit den Mitteln seiner Zeit Wege aufzeigen wollen, wie den Problemen beizukom­men wäre. Inzwischen haben sich die bestimmenden Faktoren geändert: Bevölkerungsexplosion, Technischer Fortschritt, Aufkommen des Wohl­fahrtsstaats, Verflechtung der Weltwirtschaft, weltweite Umweltge- fährdung, kriegerisches Zerstörungspotential in vielfacher Overkill‑ Größenord­nung, aber auch kulturelle Verschiebungen und der Übergang zu einer mul­tikulturellen, multizen- trischen und postmodernen Weltgesellschaft mit un­terschiedlichen, sich gegenseitig beein- flussenden Staatssystemen mögen als Stichworte genügen. In dieser veränderten Umwelt stellt sich das Pro­blem der "Nährpflicht", d.h. der Sicherung des Existenzminimums für alle in anderer Form. Im Sinne Poppers gilt es hierfür neue, wissenschaftlich fundierte Lösungen zu entwickeln und in den politischen Diskussionspro­zeß einzubringen.


Bemerkung: Die genannten Werke Poppers werden in den bibliographischen Angaben nachgewiesen.