Zum Tod von Kurt L. Shell

Nachruf auf Prof. em. Kurt Shell - von Prof. Hans-Jürgen Puhle

Veröffentlicht am: Montag, 05. November 2018, 17:41 Uhr (11-01)

Zum Tod von Kurt L. Shell

Kurt Leo Shell, der am 17. November 1920 geboren wurde, war von 1967 bis zu seiner Emeritierung 1986 Professor für Politikwissenschaft an der Goethe Universität, am Anfang am Seminar für Politische Bildung, seit 1971 im Fachbereich Gesellschaftswissenschaften. Nach der von den Nazis erzwungenen Emigration des Abiturienten aus einer liberalen jüdischen Wiener Bürgerfamilie über England in die USA und dem Kriegsdienst (der ihn nach Europa, auch nach Wien, zurückbrachte) studierte Shell an der Columbia University (u.a. bei Otto Kirchheimer und Franz Leopold Neumann) und schrieb seine Dissertation über den Übergang der SPÖ zur catch-all party (1955). Es folgten weitere Standardwerke über die Berlin-Krise, das amerikanische Regierungssystem, amerikanischen Konservatismus und zum Vergleich liberal-demokratischer Systeme, sowie Lehrbücher, zentrale Sammelwerke, Beiträge zur politischen Bildung und spätere Studien zum Supreme Court, zu Problemen des Multikulturalismus und zuletzt über Harry Truman.

Als Vertreter einer schmalen ‚Zwischengeneration’ und Brückenbauer zwischen der amerikanischen und der deutschen Politikwissenschaft hat Shell insb. die Disziplin Comparative Politics in Verbindung mit der klassischen politischen Theorie und der Analyse von Legitimationsproblemen über das Institutionelle hinaus weiterentwickelt. Als Forscher und als engagierter und beliebter akademischer Lehrer ist er für Rechtsstaat, repräsentative Demokratie und Minderheitenschutz gegen Autoritarismen aller Art eingetreten, hat aber ebenso schon früh vor möglichen Gefahren und Fehlentwicklungen in der liberalen Demokratie gewarnt.

Besonders verdient gemacht hat Shell sich auch um die Entwicklung und institutionelle Verankerung der sozialwissenschaftlichen Nordamerika-Forschung in Deutschland, nicht nur in Pionieraktivitäten wie Summer Schools, Sektionstagungen der Deutschen Gesellschaft für Amerikastudien, Austauschprogrammen oder dem renommierten Congressional Fellowship Program. Er war maßgeblich beteiligt an der Gründung des Zentrums für Nordamerika-Forschung (ZENAF) der Goethe Universität 1979, das unter seiner Regie eines der beiden großen interdisziplinären deutschen Nordamerika-Institute wurde und in das er auch nach seiner Emeritierung noch viel Zeit und Energie gesteckt hat. Wie weit Shell dabei als akademischer Institutionenbauer seiner Zeit voraus war, zeigen seine damaligen Denkschriften: Um den "herrschenden Provinzialismus" unserer Institutionen zu überwinden, bräuchten wir, argumentiert er, einen neuen innovativen Institutstyp, gekennzeichnet durch Interdisziplinarität, Schwerpunktbildung und Projektzentriertheit, durch eine enge Verzahnung von Theorie und Praxis, mit entwickelten Curricula für die Fort- und Weiterbildung, Praktikumsvermittlung, in einem weiten internationalen Verbund.

Kurt L. Shell hat auch nach seiner Emeritierung noch drei Jahrzehnte lang als einer der Elder Statesmen der Zunft den Jüngeren mit Rat und Tat zur Seite gestanden. Er war der Doyen der (nord-) amerikanistischen Politikwissenschaft und ein Glücksfall für die Amerikastudien in Deutschland. Auf dem Symposium zur Bilanz der Obama-Regierung, das das ZENAF und die F.A.Z. im Jahre 2010 zu seinem 90. Geburtstag organisierten, hat er engagiert, pointiert, temperamentvoll und kämpferisch wie immer mitdiskutiert. Und auch seine letzten Kommentare zu Donald Trump waren durchaus treffsicher. Am 12. Oktober 2018 ist Kurt L. Shell gestorben, wenige Wochen vor Vollendung seines 98. Lebensjahres.

Verfasser: Hans-Jürgen Puhle