Josef Esser Preis 2016

Josef Esser Preis im 2. Halbjahr 2016

Den Weg in die engere Auswahl fanden 22 studentische Examensarbeiten, welche von der Esser-Preis-Kommission begutachtet und anschließend diskutiert wurden. Die Jury entschied sich, den Preis an folgende Studierende zu vergeben:

  • Niels Brockmeyer (Soziologie)
  • Benedikt Franz (Politikwissenschaft)

 

Niels Brockmeyer: Zwischen Fluss und Form. Eine systematische Reflexion über den Nutzen und Nachteil der Soziologie für die Lebenszeit

Niels Brockmeyer hat eine theoretisch anspruchsvolle Arbeit geschrieben, die einen Eindruck von den Debatten gibt, die im Bereich der systematischen Soziologie künftig zu führen sind. Sehr belesen und in der Darstellung elegant, arbeitet er an einer erkenntnislogischen Lücke der Gegenwartssoziologie, indem er – u.a. von Theunissen inspiriert – eine Theorie der Zeitlichkeit als Grundbedingung für Erklärung und Deutung von Sozialität anvisiert. Anhand einer feingliedrigen Analyse zweier einschlägiger und derzeit populärer Ansätze, der RC-Theorie und der poststrukturalistischen Theorie(n), weist er deren Mängel nach und skizziert in Form einer originellen Rekonstruktion von Simmels Verständnis menschlichen Lebens als Fluss und Form zugleich das Grundgerüst einer Soziologie der Zeitlichkeit. Die Argumentation, die bis hin zu virulenten Fragen des Selbstverständnisses des Faches führt, ist äußerst komplex, dabei aber immer nachvollziehbar und transparent – eine beachtliche Leistung, die von einer ausgeprägten Gründlichkeit des Denkens, hohem wissenschaftlichen Ethos und guten Vermittlungsfähigkeiten zeugt.

 

Benedikt Franz: Die Zeit der Internationalen Beziehungen. Eine erzähltheoretische Perspektive auf das Problem der Zeit in den Internationalen Beziehungen

Herr Franz bietet mit seiner Arbeit nicht weniger als einen neuen Ansatz für die theoretischen Debatten innerhalb der IB an, wenn er zu einem Perspektivwechsel auffordert und nicht mehr fragt, mit welchen zeitlichen Annahmen die einzelnen Theorien arbeiten, sondern danach fragt, welche Vorstellungen von der Zeit die IB selbst herbeiführen. Er nimmt dafür eine erzähltheoretische Perspektive auf die Zeitlichkeit theoretischer Entwürfe ein, rezipiert hierfür ausführlich und sehr sorgsam Ricoeurs Werk „Zeit und Erzählung“ und weist das Narrativ als eine vermittelnde Refiguration aus, die es vermag, zwischen den einzelnen zeitlichen Ebenen zu vermitteln, als auch allgemein erklärend wirken zu können. Herr Franz leistet damit einen eigenständigen Beitrag zur Reflexion der Theorien der IB, der beeindruckend und sehr innovativ ist.


Josef Esser Preis im 1. Halbjahr 2016

Den Weg in die engere Auswahl fanden 29 studentische Examensarbeiten, welche von der Esser-Preis-Kommission begutachtet und anschließend diskutiert wurden. Die Jury entschied sich, den Preis an folgende Studierende zu vergeben:

  • Daniel F. Marciniak (Soziologie)
  • Tobias Schottdorf (Politikwissenschaft)
  • Heike Strohmann (Soziologie)

 

Daniel F. Marciniak: Big Data on Big Data. Testing a quali-quantitative approach in digital methods

Bei der Masterarbeit von Daniel Felix Marciniak handelt es sich um eine hoch innovative Studie, die sich dem Thema „Big Data“, mit welchem sich im sogenannten Zeitalter der Digitalisierung zahlreiche gesellschaftliche Hoffnungen und Befürchtungen verbinden, auf ganz eigene Weise nähert. Indem das methodische Instrumentarium von Big Data selbstreferentiell auf den Diskurs über Big Data selbst angewandt wird, gelingt Herrn Marciniak eine anschauliche, teilweise ironische und stets kurzweilige soziologische Reflexion über die Möglichkeiten und Grenzen der algorithmischen Exploration und Visualisierung von Daten aus Vollerhebungen. Neben der ausgesprochen gelungenen und souveränen Verschränkung von computergestützter Textanalyse und reflexiver Soziologie überzeugt die Arbeit vor allem durch ihren intellektuellen Mut und ihre kompromisslose Kreativität.

 

Tobias Schottdorf: Politische Ordnung im Licht der Freiheit. Zur Normativität von Demokratisierungsprozessen

Tobias Schottdorf diskutiert in seiner Arbeit verschiedene Freiheitskonzeptionen, um davon ausgehend einen intersubjektivistischen Begriff kommunikativer Freiheit, der an die Sozialtheorie des Pragmatismus angelehnt ist, zu entwickeln. Herr Schottdorf argumentiert überzeugend, dass solch ein reflexives Verständnis von Autonomie die Extreme liberaler und republikanischer Ansätze vermeiden kann. Diese Konzeptualisierung von Freiheit ermöglicht einen neuen Zugang zu Fragen nach Verwirklichungsmöglichkeiten in demokratischen Organisationen des Gemeinwesens. Die Arbeit zeugt von einer beeindruckenden Belesenheit, einem überdurchschnittlich breiten theoretischem Wissen und hohen Reflexionsfähigkeiten. Die Esser-Preis-Kommission stimmt der Bewertung der Erstgutachterin zu, dass die Arbeit alle Kriterien, die an eine Masterarbeit gestellt werden, in überragender Form erfüllt.

 

Heike Strohman: Zur Relevanz theoretischer Verortungen. Eine Analyse zentraler Intersektionalitätskonzepte

Frau Strohmann hat mit ihrer Diplomarbeit einen höchst eigenständigen theoretischen Beitrag zur Intersektionalitätsdebatte in der Geschlechterforschung vorgelegt, der durch seine absolut kenntnisreiche und souveräne Fundierung im Gesamtkontext der feministischen und geschlechterkritischen Theoriebildung, seine innovative Perspektive und die Klarheit des komplexen Argumentes besticht. Ihre Lesweise von Intersektionalitätsansätzen, die Identität als eine Form von „agency“ untersuchen, erlaubt Strohmann, die produktiven Verhältnisse zwischen den bislang als widerstreitend rezipierten subjektbezogenen Ansätzen und gesellschaftstheoretischen Kritikpositionen von Intersektionalität überzeugend herauszuarbeiten. Mit der von ihr vorgeschlagenen „Kritiklinie agency“ gelingt ihr eine theoretisch präzisierende Perspektive auf Intersektionalitätsforschung als Ungleichheitsforschung von höchster Qualität.