1919 – 2019: Was weiß die Friedensforschung über die Kunst, Kriege zu beenden?

Ein Gespräch mit Lothar Brock

Veröffentlicht am: Montag, 11. Februar 2019, 14:41 Uhr (11-02)

Gleich zwei Anlässe bestehen für unser Gespräch mit dem Politikwissenschaftler Prof. Dr. Lothar Brock (Jg. 1939) über die „Kunst, Kriege zu beenden“: ein weltordnungspolitischer Anlass mit dem 100-jährigen Jahrestag des Beginns der Pariser Friedenskonferenz – und ein biografischer Anlass unseres Gesprächspartners. Am 30. Januar 2019 feierte Lothar Brock, der an der Goethe-Universität zunächst seit 1992 als Professor und seit 2004 als Senior-Professor lehrt, seinen 80. Geburtstag. Überlegungen zu Krieg und Frieden in Geschichte und Gegenwart.


Tanja Brühl / Hendrik Simon: Lieber Lothar, vor ziemlich genau 100 Jahren, am 18. Januar 1919, begann die Pariser Friedenskonferenz, auf der Europa nach den Schrecken des Ersten Weltkrieges neu geordnet werden sollte. Wie lässt sich die Bedeutung von „1919“ aus heutiger Sicht bewerten?

Prof. Lothar Brock: Im deutschen historischen Gedächtnis schürte der Friede von Versailles den gesellschaftlichen Unfrieden in Deutschland – einen Unfrieden, der in die Herrschaft des Nationalsozialismus, den Zweiten Weltkrieg und den Holocaust mündete. „Versailles“ wäre so gesehen ein Friedensschluss, vor dem Immanuel Kant warnte, als er die Maxime aufstellte, dass kein Friedensschluss den Stoff für neue Kriege liefern sollte. Diese Maxime bezeichnet den Kern der Kunst, Kriege zu beenden. Aus der Sicht der Friedensforschung gehört zu dieser Kunst aber auch, dass die Beendigung eines Krieges dem allgemeinen Frieden dient. Ist das nicht ein bisschen viel verlangt? Klar. Wir können den Menschen in Syrien nicht sagen, dass wir nur für eine Kriegsbeendigung eintreten, die uns dem Frieden auf der ganzen Welt näher bringt. Es ist aber für die Betroffenen von größter Bedeutung, dass ein beendeter Krieg nicht wieder ausbricht oder die Gewalt sich in anderer Form fortsetzt. Darüber hinaus geht es um die Schaffung internationaler und gesellschaftlicher Rahmenbedingungen, die dazu beitragen, den Umgang mit Konflikten in zivile Bahnen zu lenken. Unter diesem Gesichtspunkt lohnt sich auch ein zweiter Blick auf „Versailles“.

Kannst Du das näher erklären?

Wenn man „Versailles“ in Verbindung mit den von den „Realisten“ viel geschmähten „vierzehn Punkten“ von Woodrow Wilson und der Gründung des Völkerbundes sieht, ergibt sich ein anderes Bild, als wenn man die Friedensverträge von Paris nur für sich betrachtet. Dann kann man die Verhandlungen am Ende des Ersten Weltkrieges auch als Versuch verstehen, eine internationale Ordnung für den geregelten Umgang mit Konflikten zu schaffen. Die Idee einer solchen Ordnung fand vor allem im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts in der Wissenschaft, aber auch in der ersten transnationalen Friedensbewegung der Geschichte regen Zuspruch. Sie war also nicht neu, neu war der historische Kontext, in dem sie Gestalt annahm. Dazu zählen in erster Linie die damaligen Kriegserfahrungen. Das Interessante ist, dass man angesichts dieser Kriegserfahrungen die Ideen der Haager Friedenskonferenzen von 1899 und 1907 nicht aufgab, sondern weiterentwickelte und zwar in Gestalt des Völkerbundes und einer fortschreitenden Verrechtlichung der internationalen Beziehungen. Die schlug sich auch in den Bestimmungen des Versailler Friedensvertrages nieder. Der Vertrag umfasste 440 Artikel, die alles, was den Übergang vom Krieg zum Frieden betraf, bis ins letzte Detail zu regeln versuchten. Die Pariser Friedensverhandlungen stehen also nicht nur für ein machtpolitisches Ränkespiel, sondern auch für den Versuch, solche Ränkespiele zu zivilisieren.

Aber hat sich dieser Versuch im Verlaufe des 20. Jahrhunderts nicht als wirkungslos erwiesen?

Die Versailler Bemühungen, alles bis ins kleinste Detail zu regeln, brachten offensichtlich ebenso wenig wie der große ordnungspolitische Entwurf des Völkerbundes einen Durchbruch auf dem Weg von der Beendigung des Krieges zum „Ewigen Frieden“. Aber auch Faschismus, Stalinismus, Krieg und Holocaust haben nicht bewirkt, dass das normative Projekt, für das die Pariser Friedensverhandlungen standen, aufgegeben wurde. Im Gegenteil, dieses Projekt wurde am Ende des Zweiten Weltkrieges erneut weiterentwickelt und ausgebaut, diesmal in Gestalt der Vereinten Nationen, des „Bretton Woods“-Systems zur Regelung der internationalen Wirtschaftsbeziehungen, der Kodifizierung der Menschenrechte und eines Ausbaus der internationalen Gerichtsbarkeit. Nach dem Ende des Kalten Krieges erhielt die Idee, Frieden durch Verrechtlichung der internationalen Beziehungen zu erreichen, einen weiteren präzedenzlosen Auftrieb. Den Höhepunkt erreichte diese Entwicklung mit dem Konzept einer Konstitutionalisierung des Völkerrechts, also der Umformung des Völkerrechts in ein Weltverfassungsrecht. Dem steht heute eine Entwicklung entgegen, die die bisher geschaffenen Regelwerke infrage stellt. Die Politik scheint sich kaum noch um völkerrechtliche Begründungen für das zu bemühen, was in Syrien passiert. Kosmopolitisches Denken wird allerorten durch einen neuen Nationalismus und Populismus verhöhnt. Die Antwort auf Eure Frage könnte also lauten: „Ja, die Idee einer Zivilisierung der internationalen Beziehungen verliert an Überzeugungskraft. Der mehr als hundertjährige Zyklus von Kriegserfahrungen und darauf reagierenden Friedenshoffnungen geht zu Ende.“

Deine Formulierung legt den Schluss nahe, dass das so nicht stimmt. Wie lautet also Deine Antwort auf unsere Frage?

Wie die Antwort wirklich lautet, weiß im Augenblick niemand so recht – weder in der Wissenschaft noch in der Politik. Das ist aber nicht das Ende des Nachdenkens über die Kunst, Kriege zu beenden. In den 1990er-Jahren war die Versuchung groß, von einer historischen Vergleichsfolie auszugehen, vor der sich das friedenspolitische Denken stetig weiterentwickelte und immer anspruchsvoller wurde. Zwar war nicht zu übersehen, dass das Ende der Blockkonfrontation keineswegs schon das Ende aller Kriege bedeutete. Aber mit den Schrecken, die die Gewalt in den sogenannten neuen Kriegen verbreitete, wuchs die Zuversicht, dass der „Sieg“ der Demokratie neue Möglichkeiten für die Ausbreitung des Friedens bot. Dem lag das Theorem des demokratischen Friedens zugrunde, das sich auf den empirischen Sachverhalt beruft, dass Demokratien keine Kriege gegeneinander führen. Wie sich aber sehr rasch zeigte, stand dieser Sachverhalt aber keineswegs Kriegen der liberalen Demokratien gegen Nicht-Demokratien im Wege. Die Hessische Stiftung Friedens- und Konfliktforschung (HSFK) widmete sich diesem Sachverhalt in einem Forschungsprogramm, das dem demokratischen Frieden den demokratischen Krieg zur Seite stellte. Untersuchungsgegenstand waren die sogenannten humanitären Interventionen der 1990er-Jahre und die Kriege in Afghanistan und dem Irak. Eines der Ergebnisse dieser Forschung war, dass liberal-demokratische Staaten mit ihrer Berufung auf Demokratie und Menschenrechte über eine breitere Palette von Gründen für die Anwendung von Gewalt verfügen als Nicht-Demokratien. In einer heterogenen Welt von Demokratien und Nicht-Demokratien ist also mit mehr Kriegen zu rechnen als in einer Welt von Nicht-Demokratien, und dies, obwohl die Ausbreitung der Demokratie die Chancen auf Frieden empirisch nachweisbar erhöht. Dasselbe gilt für das Verhältnis von Gerechtigkeit und Frieden, das in einem zweiten Forschungsprogramm der HSFK bearbeitet wurde. Einerseits ist die Herstellung von Gerechtigkeit Grundbedingung für einen tragfähigen Frieden, andererseits sind rivalisierende Gerechtigkeitsansprüche eine der Hauptquellen für die Anwendung von Gewalt. Das unterstreicht die Bedeutung der Forschung zur Rolle von Gerechtigkeit im Übergang vom Krieg zum Frieden. Man weiß heute, dass „transitional justice“ ein wesentlicher Aspekt der Kunst ist, Kriege zu beenden, aber keinen Generalschlüssel für das Verständnis von Friedensprozessen liefert.

Das heißt also, dass Frieden als historischer Prozess immer auch durch ihm immanente Selbstwidersprüche erschwert wird?

Bei der Verabschiedung von Axel Honneth als Leiter des Instituts für Sozialforschung wurde über die Paradoxien der Gegenwart diskutiert. Der Friedensforschung begegnen solche Paradoxien auch mit Blick auf das Verhältnis von Zwang und Frieden, das gegenwärtig in einem weiteren Forschungsprogramm der HSFK untersucht wird. Denn ein dauerhafter Frieden, egal ob inner- oder zwischenstaatlich, ist nur als Rechtsordnung denkbar, wobei das Recht aber nicht für die Überwindung von Zwang steht, sondern für seine Verregelung. Das sorgt für Ordnung, zugleich aber auch für Widerstand, weil jede Form der Verregelung nicht nur Willkür eindämmt, sondern immer auch neue Willkür schafft. Es wäre jedoch verhängnisvoll, wollte man daraus folgern, dass Anarchie und Krieg weniger Schaden anrichten als alle Bemühungen um Ordnung und Frieden. Es wäre verhängnisvoll, weil es der Willkür von vornherein freien Lauf ließe. Jeder Flüchtling weiß, dass es einen existenziellen Unterschied zwischen mehr oder weniger Willkür einer Ordnung gibt.

Was bedeutet das für die Friedensforschung, vor welchen Herausforderungen steht sie heute?

Die Friedensforschung braucht nicht „realistischere“ Programmatiken. Sie braucht ein genaueres Verständnis davon, wie Herrschaftsansprüche, politische Autorität und die Schaffung von Regelsystemen zusammenhängen. Bei allen politischen Bemühungen um eine Verregelung der internationalen Beziehungen wird bis zum Umfallen um die fünfte Stelle hinterm Komma gestritten. Alle sehen ein, dass es ohne Regeln nicht geht. Aber alle wollen für sich selbst ein Maximum an Handlungsfreiheit erhalten. Ein Hegemon ist dadurch definiert, dass er diesen Widerspruch zugunsten aller entschärft. Wenn die Kosten dafür den Gewinn, der für ihn selbst dabei herausspringt, übersteigen, verlegt er sich entweder auf eine imperiale Praxis, oder er igelt sich ein. Trump will offenbar beides. Über die Folgen sollte man nicht im Kampf um Aufmerksamkeit wild spekulieren, sondern sorgfältig forschen.

Frankfurt ist mit der HSFK und der Goethe-Universität schon früh ein wichtiger Standort der Friedensforschung gewesen. Gibt es etwas spezifisch „Frankfurterisches“ – also einen Beitrag zur Wissenschaft, der typisch ist für die HSFK und die Goethe-Universität?

Die Frankfurter Friedensforschung hat viel von der Auseinandersetzung mit der Frankfurter Schule profitiert. Habermas ist ihr zweifellos näher als Carl Schmitt. Im internationalen Vergleich würde ich sie eher der kritischen als der liberalen Friedensforschung zuordnen. Aber das sind nur Etiketten, auf die man vielleicht lieber verzichten sollte.

Lehre war Dir als regulärer Professor und ist Dir nun als Seniorprofessor immer wichtig. Du hast nicht nur unzählige Seminar- und Abschlussarbeiten, sondern auch sehr viele Dissertationen betreut. Warum engagierst Du Dich hier so sehr?

Weil mir das eine immer neue Chance bietet, mein eigenes Nachdenken über die Probleme von Krieg und Frieden zu überprüfen und Wissenschaft als gesellschaftliche Praxis zu erleben. Ich bin dem Fachbereich Gesellschaftswissenschaften dankbar, dass ich das so lange über die Pensionierung hinaus habe tun können.

Zum Beitrag in Uni-Report (S. 16)