Josef Esser Preis im 2. Halbjahr 2017

Es kamen 32 Arbeiten (18 in Soziologie und 14 in Politikwissenschaft) in die engere Wahl. Diese Arbeiten wurden jeweils von zwei Mitgliedern der Jury begutachtet und anschließend von der Jury diskutiert. Auf dieser Basis entschied sich die Jury dafür, den Preis für das 2. Halbjahr 2017 wie folgt zu vergeben:

Für die Politologie:

  • Simon Ellerbrock
  • Julia Gründel

Für die Soziologie:

  • Tristan Bauder
  • Ina Marie Schaum

Simon Ellerbrock: Estimating Trust of Religious Minorities Using Bayesian Multilevel Models and Poststratification

Simon Ellerbrock beschäftigt sich in seiner MA-Arbeit mit dem politischen Vertrauen religiöser Minderheiten und widmet sich damit einem Thema, das für das Zusammenleben in modernen Demokratien von essentieller Bedeutung ist. Für die empiriche Sozialforschung stellt dieses Thema gleichzeitig eine große methodische Herausforderung dar: Präferenzen von Minderheiten lassen sich aufgrund der geringen Fallzahl in Bevölkerungsumfragen nur schwer ermitteln. Herr Ellerbrock stellt sich dieser Herausforderung und testet die Methode der bayesianischen Mehrebenenregression mit Poststratifizierung (MRP) als eine Möglichkeit, politische Präferenzen von gesellschaftlichen Subgruppen zu schätzen. Die Esser-Preis-Jury stimmt der Bewertung des Erstgutachters zu, dass die Arbeit damit „einen Beitrag [leistet], der weit über das für eine MA-Arbeit zu Erwartende hinausgeht“. Sowohl methodisch als auch substantiell handelt es sich um eine herausragende Arbeit, welche die empirische Demokratieforschung entscheidend voranbringt.

Julia Gründel: Gesellschaft ohne Zählung – mit Rancière für eine soziale Praxis der Gleichheit 

Die Masterarbeit von Julia Gründel besticht durch ihre außerordentliche Tiefe, Klarheit und thematische Eigenständigkeit und widmet sich der ebenso prominenten wie komplexen politischen Philosophie Jacques Rancières. Der Autorin geht es dabei um die für die neuere politische Theorie (und auch Sozialphilosophie) zentrale Frage, wie sich gesellschaftliches Zusammenleben oder politische Gemeinschaftlichkeit auf einem Begriff der Gleichheit aufbauen ließe, der weder exklusiv noch substantiell ist. Ausgehend von Rancières radikaldemokratischen Gleichheitsbegriff, der vor allem negativ gedacht ist und widerständige Praktiken des Aufbegehrens anleitet, eruiert Julia Gründel, wie sich aus diesem Begriff der Gleichheit eine „positive“ Idee der politischen Organisation von Gesellschaft ableiten ließe. Die Rekonstruktion des Werkes und der Werkgeschichte von Rancière sucht ihresgleichen, verbindet die Autorin doch nicht nur zeithistorische und philosophiegeschichtliche Hintergründe des französischen Diskurses. Vielmehr gelingt es der Autorin
auch, die ästhetischen Schriften von Rancière mit seiner politischen Theorie kurzzuschließen – was sehr selten ist. Die Arbeit stellt in dieser Form bereits einen eigenständigen Forschungsbeitrag da, der auch über die Auseinandersetzung mit dem Werk Rancières hinausgeht.

Tristan Bauder: Einzelfallstudie zu Bewährungsproblemen väterlicher Zeugungsfamilien: Abstammung, Geschlecht und liminale Mutterschaft 

Tristan Bauder liefert eine theoretisch wie empirisch durchgehend anspruchsvolle Untersuchung zu Bewährungsproblemen väterlicher Zeugungsfamilien im Kontext aktueller reproduktionsmedizinischer Entwicklungen. Der Autor widmet sich dabei einem Thema, das soziologisch bisher noch gänzlich unerschlossen ist. Im ersten Teil der Arbeit verknüpft Bauder auf innovative Weise zentrale Konzepte der strukturalistischen Familiensoziologie mit einer bewährungstheoretischen Perspektive, die durch eine kulturgeschichtliche und ethnosoziologische Betrachtung des Forschungsgegenstandes vertieft wird. Die empirische Fallstudie im zweiten Teil gründet sich auf die Methodologie der Objektiven Hermeneutik von Ulrich Oevermann, die in maximaler Tiefenschärfe dargestellt wird und an einigen Stellen in weiterführende Überlegungen mündet. Neben der empirischen Pionierarbeit liefert die Untersuchung auch in methodologischer Hinsicht einen grundlegenden Beitrag zur Weiterentwicklung hermeneutisch orientierter Familienforschung. In der folgenden Präsentation der Ergebnisse kombiniert der Autor gekonnt Abschnitte aus der Genogrammanalyse und Passagen aus den familiengeschichtlichen Gesprächen, wobei sich die Frage der Abstammung, die Konstruktion von Geschlecht und die Liminalität von Mutterfiguren als zentrale Handlungsproblemkreise für väterliche Zeugungsfamilien herauskristallisieren. Im abschließenden Fazit betont Bauder die Notwendigkeit weitergehender empirischer Analysen zu den drei rekonstruierten Problemkreisen und zeigt mit einer sozialisationstheoretischen Perspektive auf die Sicht der Kinder in väterlichen Zeugungsfamilien eine Anschlussstelle für die weitere Forschung auf.

Ina Marie Schaum: Being Jewish (and) in Love: Dating Narratives of Young Jewish Adults

Ina Marie Schaum widmet sich in ihrer beeindruckenden Arbeit der Verflechtung zwischen gelebten und verkörperten Erfahrungsweisen jüdischer Identitätskonstruktionen mit zeitgenössischen Deutungsmustern und Praktiken intimer Liebesbeziehungen. Vor dem Hintergrund des historischen und kulturellen Erbes der Shoah fragt Schaum, wie und ob Liebesbeziehungen zwischen Nachkommen von Überlebenden der Shoah und Nachkommen von Täter*innen, Mitläufer* innen und Nazi-Sympathisant*innen im Land der Täter*innen möglich sind. In diesem Zusammenhang führt die Autorin narrative Interviews mit vier jungen, jüdischen, heterosexuellen Männern und Frauen. Die theoretische Perspektive der Untersuchung gründet sich auf eine gelungene Kombination aus postkolonial inspirierten feministischen Theorien, soziologischen Konzepten von Emotionen und Gefühlen und Ansätzen der Intersektionalitätstheorie. Hervorzuheben ist hierbei die Thematisierung verkörperter Erfahrungsweisen als soziale Orientierungs- und Vermittlungsform. Das methodische Vorgehen orientiert sich an der Rekonstruktion biographisch-narrativer Interviews, wobei die Autorin ein kreatives Darstellungsverfahren wählt. Schaum präsentiert die individuellen Lebensgeschichten der InterviewpartnerInnen in einem Stil poetischer Wiedergabe, wodurch einerseits der unhintergehbare Prozess einer Übersetzung angezeigt, andererseits auf spezifische Eigenheiten der Erzählung eingegangen wird. Letztlich gründet ihre Originalität in dem mutigen wie bedingungslosen Engagement, sich den Ereignissen, die wir als SozialforscherInnen beschreiben, als würdig zu erweisen.

Josef Esser Preis im 1. Halbjahr 2017

Den Weg in die engere Auswahl fanden 25 studentische Examensarbeiten, welche von der Esser-Preis-Kommission begutachtet und anschließend diskutiert wurden. Die Jury entschied sich, den Preis an folgende Studierende zu vergeben:

  • Lea Barten (Politikwissenschaft)
  • Sabine Heike Krauss (Soziologie)

 

Lea Barten: Der verschleierte Dissens. Eine Genealogie des Konsensverfahrens der UNESCO

Die Masterarbeit von Lea Barten zeichnet sich durch thematische Originalität, argumentative Stringenz und intellektuelle Eigenständigkeit aus. Sie beschäftigt sich mit dem Konsensverfahren in der internationalen Politik, dem üblicherweise eine hohe Legitimationswirkung zugesprochen wird. Am Beispiel der UNESCO zeigt Lea Barten jedoch, dass Konsens nicht automatisch ein Ausdruck von gemeinsamen Positionen und geteilten Werten ist und insofern keinen Anspruch auf besondere Legitimität erheben kann. Ihre genealogische Rekonstruktion des Konsensverfahrens der UNESCO bestätigt vielmehr Jacques Rancières Kritik an Jürgen Habermas’ Theorie des kommunikativen Handelns, dass weniger Konsens als Dissens die Quelle (demokratischer) Legitimität ist. Auf intergouvernementale Organisationen sei deshalb Habermas' Idee von Konsens nicht anwendbar. Die Entwicklung des Konsensverfahrens in der UNESCO folgte jedenfalls strategischen Überlegungen und verschleiert bis heute Konflikte und ungleiche Machtpositionen. Mit dem bloßen Anschein von Legitimität geht jedoch ein Mangel an Verbindlichkeit von Entscheidungen einher, der die Effektivität der UNESCO untergräbt. Lea Bartens Masterarbeit verbindet auf höchst instruktive Weise eine empirisch-historische und eine theoretisch-philosophische Perspektive und ist deshalb in besonderer Weise preiswürdig.

 

Managing Gender? Kleidung, Beruf, Geschlecht - eine empirische Forschung zu Frauen im technischen Vertrieb

Sabine Heike Krauss liefert mit ihrer Arbeit eine theoretisch wie empirisch durchgehend anspruchsvolle Untersuchung von Kleiderpraktiken im technischen Vertrieb aus geschlechtersoziologischer Perspektive. Dabei widmet sie sich gleich einem zweifachen Desiderat. Der Bekleidungspraxis als einem bisher eher randständigen Thema innerhalb der Soziologie und dem technischen Vertrieb als noch kaum erschlossenes Feld der Genderforschung. Im ersten Teil der Arbeit verbindet die Autorin auf innovative Weise Theorien der geschlechter-konstruktivistischen Debatte mit Bourdieus Feld- und Habitusbegriff, setzt sich eingehend mit dem gegenwärtigen Forschungsstand auseinander und entwickelt mit einer intersektionalen Erweiterung des ‚Managing Gender‘ zum ‚(Un)Doing Difference‘ ihre analytische Perspektive für die nachfolgende empirische Untersuchung. Hier begründet Krauss zunächst sehr gekonnt und reflektiert ihr methodisches Vorgehen im Lichte anderer Möglichkeiten. Anschließend stellt sie entlang von drei kontrastiven Fällen, die mittels problemzentrierter Interviews erhoben und dem Kodierverfahren der Grounded Theory analysiert werden, die Ergebnisse ihrer Forschung dar und konzentriert sich dabei mit der Messe, dem Kundenbesuch und der technischen Schulung auf drei Schlüsselsituationen des technischen Vertriebs, in denen die Präsentation und Inszenierung des Selbst durch Kleidung für Frauen in einem männerdominierten Feld zur geschlechterspezifischen Herausforderung wird. Im abschließenden Fazit der Arbeit kommt Krauss zu dem Schluss, dass die Diskriminierung von Frauen weiterhin in der alltäglichen beruflichen Interaktion stattfindet und Kleidung ein Artefakt ist, an dem sich diese Diskriminierung spiegelt.

 

Kontakt

Dekanat Fachbereich Gesellschaftswissenschaften


Goethe-Universität Frankfurt am Main
Campus Westend – PEG-Gebäude
Theodor-W.-Adorno-Platz 6
60323 Frankfurt am Main

Geschäftsstelle
Tel.: +49 (0)69 798-36573
dekanat.fb03@soz.uni-frankfurt.de

Anfahrt