Unsichere Eltern, unsichere Kinder?

Ehemalige Instituts-Mitarbeiterin Ursula Stark Urrestarazu über Unsicherheiten im Umgang mit dem Kind

Veröffentlicht am: Montag, 21. Januar 2019, 17:33 Uhr (21-01)

Je bewusster die Entscheidung für ein Kind, desto höher die Ansprüche an das eigene Erziehungshandeln. Man liest Erziehungsratgeber, diskutiert in Foren über den richtigen Umgang mit dem Kind. Doch anstatt ganz genau zu wissen, wie es geht, werden gut informierte Eltern immer unsicherer.


Es gibt sicherlich wenige Bereiche menschlichen Daseins, in denen »Unsicherheit« noch flächendeckender grassiert als im Bereich der Elternschaft – mal abgesehen von Außenpolitik und internationalen Beziehungen, meinem eigentlichen Forschungsfeld. Diese Erkenntnis und meine Erfahrungen als Mutter zweier Kinder haben mich indes dazu bewogen, über meinen engen disziplinären Rahmen hin­ auszublicken und nach den Ursachen für diese elterliche Unsicherheit zu fragen. Womit ich, zugegeben, in fremden wissenschaftlichen Gefilden »wildere«. Doch so fremd sind diese thematischen Gefilde bei genauerer Betrachtung einander gar nicht – vor allem, wenn man in Rechnung stellt, dass es sich bei Elternschaft um eine gesellschaftliche Sphäre handelt, die zutiefst durch soziale und kulturelle Normen durchdrungen ist. Da sich mein spezifischerer Forschungsfokus auf den Zusammenhang von Identität und (internationaler) Politik bezieht, sind mir diese und vergleichbare Fragestellungen nicht ganz so fern, wie man dem erstem Anschein nach vermuten könnte.

Ist es schwieriger denn je, Eltern zu sein?

Doch auch ohne diesen spezifischen Fokus müsste sich eigentlich jeder Sozial und Politikwissenschaftler für diese Thematik brennend interessieren. Man muss sich noch nicht mal explizit mit pädagogischen Metaphern in der Politik beschäftigen, etwa der deutschen «tough love diplomacy« gegenüber Griechenland im Kontext der EU Schuldenkrise. Man muss sich auch nicht notwendigerweise die Prämisse einiger Anhänger des sogenannten »attachment parenting« zu Eigen machen, wonach die Herausbildung einer besseren Gesellschaft maßgeblich in der Herstellung positiver Eltern Kind Bindung begründet liegt. Das Thema Elternschaft tangiert letztlich eine der fundamentalen Grundlagen unseres Gegenstandes als Sozialwissenschaftler: Wie können wir kleine Menschenkinder zu Individuen erziehen, die gerechte(re) Gesellschaften bilden? Allein das Gewicht dieser Frage dürfte schon andeuten, wieso das Thema für junge Eltern mit großer Unsicherheit verbunden ist. Auf diese Art und Weise gerahmt, wird unser Erziehungsansatz gesamtgesellschaftlich relevant und somit zum politischen Gegenstand. Was genau sollen wir tun? Welchem Rat sollen wir folgen? Was ist, wenn wir scheitern? Diese und ähnliche Fragen werfen uns Eltern in Identitätskrisen: Welche Art von Eltern wollen wir sein? Und welche Art von Kindern wird dabei herauskommen? Eine der großen Fragen, die ich mir immer wieder stelle, seit ich selbst Mutter bin, ist ferner: War es früher anders? Gibt es bestimmte Aspekte unserer Zeit, die die Erfahrung der Elternschaft schwieriger machen und uns junge Eltern in besonderem Maße verunsichern?

Meine Antwort darauf lautet ganz klar: Ja. Epochenspezifische Dynamiken haben einen massiven Einfluss auf die Erfahrung von Elternschaft. Dazu zählen zum einen gesellschaftliche Trends wie die Digitalisierung unserer Gesellschaft, die sich grundlegend auf Überlieferungsformen von relevantem Wissen wie auch auf Gemeinschaftsbildung und Identifikation von Eltern ausgewirkt hat. Charakteristisch für unsere moderne westliche Gesellschaft ist zudem ein tief greifender Wandel familiärer Strukturen, der sich ebenso fundamental auf die Überlieferung von »Elternwissen« auswirkt. Nicht zuletzt haben sich jedoch auch das Konzept von Elternschaft an sich sowie die damit verbundenen gesellschaftlichen Normen im Laufe der Zeit grundlegend gewandelt. Erziehung ist politisch Letzteres lässt sich vor allem am gewandelten juristischen Kontext veranschaulichen. Galt die Form der Kindeserziehung beziehungsweise Disziplinierung vormals als Privatsache, haben Kinder in Deutschland seit dem Jahr 2000 ein »Recht auf gewaltfreie Erziehung« (§ 1631 BGB). Wer Gewalt gegen Kinder ausübt, macht sich also nicht nur einer ethisch verwerflichen Handlung schuldig, sondern auch vor dem Gesetz strafbar. Das Private wurde hier also so politisch, wie es nur sein kann. Dieser juristischen Weichenstellung liegt ein gewandeltes gesellschaftliches Verständnis über »richtige« Wege der Kindeserziehung zugrunde, das sich wiederum in vielfältigen neuen Paradigmen der Elternschaft wiederfinden lässt. Das bereits erwähnte »attachment parenting« – oder auf Deutsch »bedürfnis- bzw. bindungsorientierte Erziehung« – ist sicherlich der prominenteste unter vielen neuen Ansätzen, denen im Großen und Ganzen gemein ist, das kindliche Bedürfnis und die liebevolle Eltern-Kind-Bindung in den Mittelpunkt zu stellen. Hinzu kommen spezifische Wandlungserscheinungen gegenwärtiger (von Sozialwissenschaftlern gerne »postmodern« genannter) Gesellschaften, die sich grundlegend auf familiäre Strukturen sowie auf Formen der Weitergabe tradierten Wissens ausgewirkt haben. Die heutige (Klein-)Familie unterscheidet sich von früheren (Groß-)Familien vor allem insofern, als junge Eltern erwerbsbedingt erheblich mobiler sein müssen und somit deutlich isolierter von größeren sozialen Kontexten leben. Die generationenübergreifende Weitergabe von Erfahrung und Wissen über Erziehung vollzieht sich somit nicht mehr so »natürlich« und beiläufig wie einst.

Tradiertes Wissen wird ersetzt

Hinzu kommt, dass sich moderne Gesellschaften ganz grundlegend auch dadurch auszeichnen, dass vermeintlich »gesicherte« tradierte Wissensbestände radikal infrage gestellt und entsprechende Alternativen in gesellschaftlichen Diskursen breit thematisiert werden. Das Thema Kindererziehung bildet hier keine Ausnahme, ganz im Gegenteil. In das Vakuum, das die tra

dierten Wissensbestände hinterlassen haben, ist eine ganze Industrie von Elternratgebern und eine Vielzahl an unterschiedlichen Paradigmen – ja, Ideologien – der »richtigen« Art der Erziehung getreten. Wo in früheren Zeiten vergleichsweise unstrittig war, wie Kinder zu erziehen seien, stehen Eltern heute vor einer Explosion an Deutungs- und Handlungsmöglichkeiten. Die Digitalisierung und das Aufkommen sozialer Medien verstärken diese Tendenz zusätzlich. An die Stelle familiärer Strukturen bzw. des sprichwörtlichen »Dorfes«, das für die Erziehung eines Kindes vonnöten ist, sind Online Communitys getreten, die diesen Mangel an Wissensaustausch und Identifikation kompensieren. Hier treffen sich Gleichgesinnte, die nicht nur Wissen austauschen, sie bestätigen und bestärken sich dabei gleichzeitig in ihrer Haltung bzw. Identität als Eltern auf der »richtigen« Seite. Wie ich an anderer Stelle argumentiert habe, führt dies dazu, dass Debatten um Elternschaft im Netz – mit all den Problematiken, die Online Kommunikation anhaften – so politisch kontrovers geführt werden wie nie zuvor (Stark Urrestarazu 2017) – und häufig zur Verunsicherung ohne hin verunsicherter Eltern zusätzlich beitragen.

Weniger soziale Kontrolle, mehr Freiheit

Man muss jedoch gleichzeitig hervorheben, dass all dies nicht nur schlechte Nachrichten sind. Der Strukturwandel familiärer Bande bedeutet für Eltern in gleichem Maße weniger soziale Kontrolle durch (nicht immer wohlmeinende) Großeltern, Tanten und andere Verwandte mit »guten Ratschlägen«. Eltern sind heute freier in ihrer Wahl, welche Werte ihnen in der Erziehung ihrer Kinder wichtig sind – unabhängig von der herrschenden gesellschaftlichen Meinung. Dass Kindererziehung überhaupt aus dem Privaten ins Politische übergegangen ist, ist ebenso als großer Fortschritt zu betrachten. Öffentlich über Methoden der Erziehung bzw. Disziplinierung und deren potenziell verheerende Folgen auf Individuen und somit ganze Gesellschaften zu diskutieren, ist richtig und wichtig. Viel zu lange war Härte bis hin zu Gewalt völlig normal in der Erziehung, ja, wurde von »guten« Eltern sogar erwartet. Dass dies nicht mehr so ist, ist eine große Errungenschaft dieser Diskussionen und der damit verbundenen neuen Paradigmen der Elternschaft. Man könnte von daher durchaus behaupten, dass die Zeiten zum Kinderkriegen eigentlich nie besser gewesen sind.

Intuition verliert an Kraft

Allerdings ist es jedoch ebenso augenfällig, dass sich neue Zeiten auch sehr verunsichernd auf Eltern auswirken, wie man diversen Berichten von Elternberatern und Kinderpsychologen entnehmen kann (Bergmann 2009). Die Explosion an Deutungsangeboten von (vormals tradiertem) Wissen und Erziehungsprogrammen führt bei Eltern sehr häufig zur Überforderung und zum Verlust an Spontaneität und Intuition. So sind etwa die Deutungsangebote bezüglich »schwierigen Kindern« heute sehr zahlreich – vom »Schreikind« über das »gefühlsstarke« Kind bis hin zum »high need baby«. Die Frage, wie genau sich Eltern hier zu informieren und verhalten haben, stellt sie vor nicht unerhebliche Herausforderungen. Und führt somit sehr häufig zu weiteren Verunsicherungen. Wie ich auch bereits an anderer Stelle am Beispiel der Debatte um »attachment parenting« beziehungsweise bindungsorientierter Erziehung argumentiert habe, führt die – fast schon ideologisch aufgeladene – Diskussion um »richtige« Wege in der Erziehung bei Eltern häufig zu einem konstanten unterschwelligen Gefühl der Unzulänglichkeit.

Wenn Eltern unbedingt alles »richtig machen« wollen, die Goldstandards neuer Paradigmen jedoch nicht in Gänze erfüllt werden können, fürchten Eltern schnell um die Qualität der Bindung mit ihrem Kind und verlieren damit an Souveränität. Die elterliche Intuition und natürliche Fähigkeit zur Bindungsherstellung werden davon überschattet, obwohl sie meines Erachtens essenzielle Aspekte des Elterndaseins dar stellen. Zudem kommt es im Strudel der Dynamik solcher Diskussionen ziemlich schnell zu Abwertungen beziehungsweise gegenseitigen Verurteilungen – in einschlägigen Diskussionen bekannt als »Mommy wars«. Aus meiner (Forschungs-)Perspektive handelt es sich dabei um nichts anderes als sogenannte »Identity Politics« unter Eltern: Die Politisierung von (elterlicher) Identität und die ewige Dynamik der Ein bzw. Ausgrenzung auf der Basis quasi ideologischer Programme. Wenn man es vor diesem Hintergrund betrachtet, geht es dabei in erster Linie um die Eltern und weniger um die Kinder. Diese würden jedoch nach meinem Dafürhalten von entspannten, souveränen Eltern wesentlich mehr profitieren als von der Erfüllung eines Erziehungsprogrammes.

Vertrauen in ureigene »Richtlinienkompetenz«

Wie können wir diesen Dynamiken entgegen­ treten? Zunächst sollte angemerkt werden, dass Unsicherheit höchstwahrscheinlich von jeher zu Elternschaft gehört; wir tragen sie gewisser maßen in unserer Eltern DNA. Das ist auch nicht zwangsläufig problematisch. Problematisch wird es, wenn die Unsicherheit unsere Intuition und Souveränität überschattet. Und damit auch die Beziehung zu unseren Kindern beeinträchtigt. Zudem ist wohl auch die Frage eine Überlegung wert, inwiefern diese Unsicherheit bzw. der Drang, alles »richtig machen zu wollen«, in erster Linie ein »Luxusproblem« gut gebildeter Eltern darstellt. Um etwas aus meiner eigenen Erfahrung als Mutter zu berichten: Meine Erstgeborene hat sich von Anfang an so ziemlich gegen jeden »Goldstandard« vermeintlich hilfreicher Erziehungsratgeber gewehrt, aus heutiger Sicht betrachtet für mich eigentlich ein Glücksfall. Schon die Geburt war alles andere als unkompliziert, so dass das von mir im Vorfeld imaginierte glückshormon- und blumenuntermalte » birth bonding« nicht stattfand und der unmittelbare Moment nach der Geburt im Wesentlichen daraus bestand, zu Bewusstsein zu kommen. Anschließend gab mir meine Tochter regelmäßig und deutlich zu verstehen, dass sie bei Schreiattacken keinerlei körperliche Nähe zu mir wünschte. Auch in anderen Situationen wurden meine Annäherungsversuche mit kühler Distanz quittiert. Für mich als junge Mutter war das irritierend, war doch die (körperliche) Nähe zu meinem Kind der Goldstandard meines – teils durch Lektüre einschlägiger Ratgeber genährter – » common sense« und das erste Mittel der Wahl bei etwaigen Missstimmungen des Babys. Ähnlich verhielt es sich mit dem Stillen, das einfach nicht klappen wollte. Haben meine Tochter und ich deswegen Bindungsprobleme? Nicht im Geringsten. Haben mir Elternratgeber dabei geholfen, eine positive Bindung mit ihr herauszubilden und bis heute zu leben? Eher im Gegenteil. Dass ich nicht verunsichert war beziehungsweise wurde, lag auch an einem privaten Umfeld, das mich darin bestärkte, vermeintliche Goldstandards zu vergessen und auf meine ureigenen Fähigkeiten zur Bindung mit meinem Kind zu vertrauen. Und so haben meine inzwischen fast drei­ jährige Tochter und ich eine gesunde und starke Bindung, ganz ohne programmatische Richtlinien. Wenn wir davon ausgehen, dass Individuen, die gerechte Gesellschaften konstituieren sollen, durch eine positive Bindung mit ihren Eltern heranwachsen – und davon bin ich im Prinzip auch überzeugt –, sollten wir genau dies versuchen zu stärken: das Selbstvertrauen der Eltern, gewissermaßen ihren Glauben an ihre ureigene »Richtlinienkompetenz«. Denn souveräne Eltern bekommen souveräne Kinder, die später zu souveränen Erwachsenen werden. Und diese sind für die Gesellschaft gerade in unsicheren Zeiten wie diesen besonders wichtig.  

Zum Beitrag im Wissenschaftsmagazin Forschung Frankfurt (S. 102-107)