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Feb 11 2021
11:19

Netzwerkforscher Christian Stegbauer über die "Gesellschaft im Zeichen des Virus"

Corona - auch ein Indikator für Ungleichheit

Sozialität im Dazwischen. Netzwerkforscher Christian Stegbauer spricht im neuen UniReport über sein Buch Corona-Netzwerke - Gesellschaft im Zeichen des Virus und den Verlust informeller Kontakte.


UniReport: Herr Professor Stegbauer, viele wissenschaftliche Disziplinen haben sich mittlerweile zur Corona­-Pandemie geäußert. Was hat bei Ihnen die Idee reifen lassen, sich als Netzwerkforscher damit zu beschäftigen?

Christian Stegbauer: Als die Idee zu dem Buch entstand, waren es vor allem die Virologie und die Ökonomie, die die Debatte beherrschten. Diese Debatte erschien uns als zu schmal – zumal wir als Netzwerkforscher*innen uns im Zentrum des Geschehens bewegen: Das Virus verbreitet sich entlang der Strukturen sozialer Beziehungen und das ist das, womit sich die Netzwerkforschung beschäftigt. Vor fünf Jahren haben wir die Deutsche Gesellschaft für Netzwerkforschung gegründet. Zahlreiche Disziplinen haben den Wert dieser anderen Perspektive erkannt. Uns interessiert weniger der einzelne Mensch und sein individuelles Verhalten; wir schauen mehr darauf, wie sich Sozialität im Dazwischen, in den Beziehungen herstellt und welche Konsequenzen das hat.

Viren werden durch/bei Begegnungen von Mensch zu Mensch übertragen – stellt die Pandemie damit automatisch die Grundlagen von Mobilität und Globalisierung infrage?

Die Globalisierung der Wirtschaft und der Tourismus hat die Menschen näher zusammengebracht. Mit den Reisenden wandert auch das Virus. Eine mögliche Strategie, die Verbreitung entlang der Reisewege zu verringern, ist die Restriktion von Reisen. Das Zusammenrücken der Welt bedeutet aber auch, dass viele Familienbeziehungen leiden. Das gilt nicht nur für solche Menschen, deren Wurzeln aufgrund der Migration in anderen Ländern liegen. In der Wirtschaft diskutiert man darüber, ob man nicht auf viele Reisen verzichten könne und sich stattdessen auf Videokonferenzen beschränken könne. Diese Idee ist übrigens schon älter und trotzdem führte die Ausweitung von Beziehungen über Ländergrenzen hinweg zu immer mehr Reisen. Gegenseitiges Vertrauen generiert man am besten, wenn man sich trifft und neben dem Business auch persönliche Begegnungen hat. Dabei lernt man die Menschen viel besser kennen und es entstehen gegenseitige Verpflichtungen. Die Pandemie zwingt zu einer Einschränkung der direkten Kontakte und daher ist es wahrscheinlich, dass es danach sehr schnell wieder losgeht mit den Reisen.

In einem Beitrag beschäftigen Sie sich damit, dass das Virus nicht alle gleichmacht, sondern es ein Indikator für Ungleichheit ist. Können Sie das kurz verdeutlichen?

Zu Beginn der Pandemie wurde häufig geäu-ßert, dass das Virus ein Gleichmacher sei, weil sich auch zahlreiche Prominente infiziert hatten. Allerdings kann sich die verhältnismäßig reiche angestellte Mittelschicht in ihr einigermaßen sicheres Homeoffice zurückziehen. Sie hat dadurch mehr Autonomie über die eigenen Kontakte zu bestimmen. Die Arbeiter auf dem Bau, in den Schlachthöfen oder der Landwirtschaft hingegen, werden immer noch häufig in Sammelunterkünften untergebracht oder in engen Fahrzeugen zum Einsatzort gebracht. Diese können nicht über Distanzierung entscheiden – mit wem sie in Kontakt kommen, darüber bestimmen ihre Arbeitgeber. Ähnliches gilt natürlich auch für die im Frühjahr letzten Jahres sogenannten Coronaheld*innen. Diese kommen berufsbedingt mit sehr vielen Menschen in Kontakt. Diese neue Un-gleichheitsdimension könnte man als den Grad der Netzwerkautonomie bezeichnen – inwiefern man selbst über Kontakte und deren Reduzierung bestimmen kann.

Ein weiterer Beitrag beschäftigt sich mit dem sogenannten »Hamstern«. Dies wurde im Zuge der Pandemie von den meisten Menschen als hochgradig irrationales und unsoziales Verhalten gegeißelt. Wie sieht die Netzwerk­forschung die extreme Bevorratung bestimmter Produkte?

Das Hamstern hat seine Ursache vor allem in der Verunsicherung der Menschen und ihrer Bewältigung. Diese Unsicherheit wurde durch die Medien und Politik verstärkt, obwohl dies nicht intendiert war. Die Medien berichten immer von den Hotspots der Probleme und verstärken so deren Wahrnehmung. Die Politik behauptete zu Beginn der Krise, dass unser Gesundheitssystem bestens auf die Pandemie vorbereitet sei – das stellte sich sehr schnell als falsch heraus. Aus der Aussage, dass Masken nichts nutzten, wurde bis heute die Tragepflicht von FFP2-Masken. Zwar lernt man auch dort hinzu, aber wenn man durchschaut, dass diese Aussagen falsch waren, glaubt man dann den Aussagen, die Versorgung mit Nudeln und Toilettenpapier sei gesichert, wenn die Regale in den Geschäften leer sind? Durch die Kontaktbeschränkungen wurden die Möglichkeiten, sich mit anderen über die Lage zu unterhalten, stark reduziert. Das führte dazu, dass die Verunsicherung noch weiterwuchs, weil es schwer war, sich an der Praxis der anderen zu orientieren. Wo wir das Verhalten der anderen beobachten konnten, das war zum Beispiel in den Läden. Da wurden vor uns die letzten Nudeln herausgetragen. All das sorgte dafür, dass sich die Knappheit vergrößerte. Daraus ergab sich das Bedürfnis, die fehlenden Produkte ebenfalls zu bevorraten, weil die Befürchtung bestand, dass es nächstes Mal ausverkauft sein könnte. Dass dieses Verhalten die Knappheit eigentlich erst erzeugt, ist etwas, was man nur aus einer Makroperspektive analysieren kann. Das ist aber nicht die Verhaltens- und Orientierungsebene des Einzelnen.

Ein Bereich des Buches ist Arbeit, Wirtschaft und Technik gewidmet: Das Homeoffice wird in der Pandemie als Mittel zur Reduktion von Direktkontakten gesehen und darüber hinaus von vielen auch als Mittel der Flexibilisierung der Arbeitskultur geschätzt. Reichen die Kontakte über Telefon, Videochat und Mail, um den Anforderungen an soziales Netzwerken zu genügen?

All die technischen Hilfsmittel, um in Kontakt zu bleiben, sind hilfreich. Allerdings ersetzen sie nicht den persönlichen Umgang miteinander. In der Videokonferenz sieht man beispielsweise die anderen nur als einzelne Kacheln, weiß aber nichts über deren Verhältnis zueinander. Da ist es ganz schwer, Stimmungen abzuschätzen oder bei virulenten Problemen an verschiedene Argumente außerhalb der geplanten formalen Sitzungen heranzukommen. Für Organisationen kann man wohl sagen, dass das, was die eigentliche Organisation ausmacht, die informellen Kontakte, sehr stark leiden. Wir wissen aus der Organisationssoziologie, dass durch das Informelle das offiziell Geplante erst gängig gemacht wird. Insofern kann man sagen, dass die Kommunikation über Medien wohl nicht ausreicht. Unternehmen, die denken, jetzt könne man Büroraum abgeben und die Mitarbeitenden zu Hause lassen, werden die Probleme, die das verursacht, wahrscheinlich auch noch zu spüren bekommen.

Ein Beitrag beschäftigt sich mit den zahlreichen Talkshows im Fernsehen. Inwiefern greift auch hier der Netzwerkansatz, denn schließlich diskutieren hier zum Teil recht prominente (Einzel­)Akteure?

In dem Beitrag wird analysiert, wer an welcher Talkshow teilgenommen hat. Dadurch erzeugt man ein sog. bimodales Netzwerk – aus Personen, die in Talkshows waren und den Talkshows selbst. So kann man zum Beispiel schauen, welche Gäste unterschiedliche Sendungen miteinander verbinden, weil sie in verschiedene Talkshows eingeladen wurden. Karl Lauterbach war zum Beispiel derjenige, der in allen Talkshows zu Gast war. Zwar spielt die Telegenität und Schlagfertigkeit bei deren Auswahl der Gäste auch eine Rolle, sie werden aber als Repräsentanten gesellschaftlicher Gruppen (etwa Parteien, Gewerkschaften oder Kirchen) eingeladen. Es kann auch sein, dass sie für gesellschaftliche Systeme stehen, wie für die Wirtschaft, die Gesundheit, die Kultur u. ä. So kann man mithilfe der Netzwerkanalyse zeigen, welche gesellschaftlichen Teilsysteme vorkamen und welche am zentralsten waren. Für die Wissenschaft insgesamt ist das Ergebnis eigentlich sehr gut, denn es kam kaum eine Talkshow ohne Vertreter aus der Wissenschaft aus.

Ihr Buch ist im Frühsommer 2020 entstanden; würden Sie mit Blick auf den weiteren Verlauf der Pandemie und besonders auf den aktuellen »harten« Lockdown andere Aspekte sehen?

Vielleicht kann man sagen, dass aus der Sicht der Netzwerkforschung, für die soziale Kontakte, deren Bedeutung und Struktur im Mittelpunkt steht, der Lockdown nicht hart genug ist. Was wir doch alle erleben, ist das große Bedürfnis, wieder mehr mit anderen Menschen zusammenzutreffen. Der Lockdown nun schneidet die wichtigen Beziehungen gefühlt endlos ab – ohne dass absehbar wäre, wann diese Entbehrung zu Ende ist. Im Gegenteil, eine Verlängerung der Beschränkungen reiht sich an die nächste. Ein kürzerer kompletter Lockdown hingegen würde die Aussicht auf etwas normalere Beziehungen erhöhen. Das wäre ein Preis, für den es sich lohnen würde, sich etwas mehr – aber nicht endlos anzustrengen.

Kann die Netzwerkforschung aus ihren Beobachtungen und Analysen auch Empfehlun­gen für künftige Krisen dieser Art gewinnen?

Menschen sind so konstituiert, dass sie ohne soziale Kontakte nur schwer leben können. Ihnen fehlt dann nicht nur die Nähe und Zuneigung, ihnen fehlt auch ein großes Ausmaß an dem, was man als soziale Integration bezeichnen könnte. Hierdurch entstehen erst unsere Identitäten, aus denen wir als Menschen unsere Orientierung ableiten können. Das hat aus der Netzwerkperspektive genauso einen hohen Stellenwert wie die Prosperität der Wirtschaft. Das Abschneiden von Kontakten wirkt sich auch auf die Gesundheit aus, die Wirkung geht aber weit darüber hinaus. Man kann sich wünschen, dass solche Aspekte bei der Bekämpfung künftiger Krisen Berücksichtigung finden. Da man sich aneinander orientiert, dürften Vorbilder eine gewisse Rolle spielen. Wenn die anderen Familienmitglieder, die Nachbarn oder die Kolleginnen und Kollegen sich impfen lassen, wird es schwer sein, eine Argumentation dagegen aufrechtzuerhalten. Auch hier sind Kontakte wichtig, weil sie dabei helfen, eine Entscheidung zu treffen.

Denken Sie, dass die Pandemie zu dauerhaften Veränderungen im Sozialverhalten führen könnte, vor allem bei von Ihnen im Buch als »super schwache Beziehungen« bezeichneten Kontakten auf Volksfesten oder Clubs?

Super schwache Beziehungen finden sich häufig. Sie spielen für die Pandemie dann eine Rolle, wenn einander unbekannte Menschen sich sehr nahekommen. Während wir im Alltag meist nur auf dieselben Personen treffen, wird dieses Schema im Urlaub beispielsweise gebrochen. Wenn sich dort Leute zum Beispiel aus verschiedenen Ländern treffen, dann ist das die Chance für das Virus, sich in Bereiche zu verbreiten, die es sonst nicht erreichen könnte. Wenn es das Virus dann an einen anderen Ort geschafft hat, verbreitet es sich dann allerdings wieder regulär, das heißt innerhalb der regelmäßigen engen Kontakte. Insofern könnte man bei den super schwachen Beziehungen am ehesten Kontaktreduzierungen durchführen, um eine Verbreitung in neue Gebiete zu verhindern. Andererseits ist der enge Kontakt mit Menschen, denen man sonst nicht begegnet, besonders bereichernd. Diese Menschen sind interessant, denn man erfährt Dinge, die einem sonst nicht zugänglich sind. Es mag also es kurz nach Ende der Pandemie noch eine gewisse Skepsis gegenüber solchen Orten geben, aber das dürfte nur von kurzer Dauer sein.

Fragen: Dirk Frank




Stegbauer, Christian, Clemens, Iris (Hg.): Corona­Netzwerke – Gesellschaft im Zeichen des Virus. Wiesbaden, Springer 2020


Das Interview erschien im UniReport 1/2021.

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