Das Vorhaben untersucht, ob und inwieweit gegenwärtig aus dem Zusammenwirken von genetischem Wissen, neuartigen biomedizinischen Technologien, wissenschaftlich-politischen Diskursen und kommerziellen genetischen Testangeboten eine neue biosoziale Identität und Personenkategorie der sogenannten heterozygoten Anlageträgerinnen und -träger von rezessiv vererbten Erkrankungen entsteht. Technische Entwicklungen der Gen- und Genomanalyse machen es seit Kurzem möglich, mehrere Hundert genetische Anlageträgerschaften für rezessive Krankheiten kostengünstig in einem einzigen Testvorgang zu analysieren (sogenanntes „expanded carrier screening“ oder „erweitertes Anlageträger-Screening“). Dadurch gewinnt diese soziologisch bislang weniger beachtete Form der Genträgerschaft erheblich an Bedeutung für medizinische, gesundheitspolitische und bioethische Debatten, aber auch für privatwirtschaftliche Anbieter entsprechender Tests. Denn nach gegenwärtigem Stand der Humangenetik sind die meisten Menschen, ohne dies zu wissen und ohne ein eigenes Erkrankungsrisiko zu haben, Träger von durchschnittlich etwa drei bis sechs rezessiv vererbten Krankheitsanlagen, die sie mit einer Wahrscheinlichkeit von 50 Prozent an ihre Kinder weitergeben. Die erweiterten Tests richten sich deshalb an alle Paare mit Kinderwunsch, damit sie, „idealerweise“ bereits vor einer Schwangerschaft („präkonzeptionell“), überprüfen können, ob beide Partner die Anlageträgerschaft für die gleiche Krankheit oder Behinderung aufweisen. In diesem Fall bestünde für ein gemeinsames Kind ein 25prozentiges Risiko, von beiden Elternteilen jeweils die krankheitsauslösende genetische Mutation zu erhalten.
Ein Anlageträgertest schon vor einer Schwangerschaft eröffnet den Paaren bei einem positiven Befund verschiedene Möglichkeiten (vom Verzicht auf Kinder bis zur Präimplatationsdiagnostik), die Geburt eines gesundheitlich beeinträchtigten Kindes zu vermeiden. In dem Vorhaben wird analysiert, wie in medizinischen, gesundheitspolitischen und bioethischen Diskursen sowie in den kommerziellen „Direct-to-consumer“-Angeboten über das Internet die relativ neue Figur und Identität der „Anlageträger_innen“ konturiert und mit spezifischen Risiken, Hoffnungen, Handlungsoptionen und Verantwortlichkeiten verknüpft wird. Zudem wird mit Hilfe leitfadengestützter Interviews untersucht, inwieweit und wodurch Individuen und Paare motiviert sein könnten, sich Wissen über ihre rezessiven Anlageträgerschaften zu verschaffen und in welchem Ausmaß sie sich in ihrer Selbstwahrnehmung als Anlageträger_innen verstehen sowie ihr Verhalten daran orientieren. Mit diesen Fragestellungen und Zielen trägt das Vorhaben bei zur differenzierten Untersuchung der sozialen Implikationen und Wirkungen genetischen Wissens und biomedizinischer Technologien, zur soziologischen Analyse von sozialen Praktiken des Wissens und Nichtwissens sowie zu der beginnenden öffentlich-politischen Auseinandersetzung über Vor- und Nachteile einer in wesentlichen Aspekten neuartigen und potentiell höchst folgenreichen genetischen Diagnostik.
Das inzwischen
abgeschlossene Forschungsprojekt beschäftigte sich aus soziologischer
Perspektive mit den mutmaßlichen gesellschaftlichen Auswirkungen sowie
den unterschiedlichen Bewertungen einer neuartigen genetischen
Diagnostik, des genetischen Anlageträger-Screenings. Hierbei werden
Paare mit Kinderwunsch möglichst schon vor einer Schwangerschaft
(„präkonzeptionell“) auf die Anlageträgerschaft für bis zu 600 rezessiv
vererbte seltene Krankheiten oder Behinderungen getestet, mit dem Ziel,
herauszufinden, ob sie eine gemeinsame Trägerschaft für eine dieser
Krankheiten aufweisen. In diesem Fall bestünde für Kinder des Paares ein
bis zu 25-prozentiges Risiko, von dieser Krankheit oder Behinderung
betroffen zu sein. Die Diagnostik bietet zukünftigen Eltern die
Möglichkeit, die Geburt eines gesundheitlich beeinträchtigten Kindes zu
vermeiden, sei es durch die Nutzung reproduktionsmedizinischer Angebote
(Pränataldiagnostik und ggf. Schwangerschaftsabbruch,
Präimplantationsdiagnostik, Samenspende), sei es durch Verzicht auf
Kinder oder Adoption.
Es spricht einiges dafür, dass die Einführung und möglicherweise breite Nutzung einer solchen Diagnostik weitreichende soziale Folgen haben würde; diese könnten von gesellschaftlichem Erwartungsdruck, das Testangebot in Anspruch zu nehmen und für die „Prävention“ zu nutzen, bis hin zu veränderten Selbstwahrnehmungen als „Anlageträger/in“ oder sogar „genetisierten“ Formen der Partner_innen-Wahl reichen. Neben den möglichen gesellschaftlichen Implikationen des Anlageträger-Screenings wurden in qualitativen Interviews gesellschaftliche Bewertungen der neuen genetischen Diagnostik erhoben, wobei besonderes Gewicht auf die Sichtweisen von Menschen mit seltenen Erkrankungen und ihren Selbsthilfeorganisationen gelegt wurde.
07/2009 – 12/2013 | Partizipative Governance der Wissenschaft. Möglichkeiten, Wirkungen und Grenzen der Beteiligung zivilgesellschaftlicher Akteure am Beispiel von Biomedizin und Nanotechnologie (Projektleitung) | Universität Augsburg | BMBF | ||
07/2005 – 06/2009 | Biologisierung des Sozialen oder neue Biosozialität? Teilprojekt im Rahmen des Sonderforschungsbereichs „Reflexive Modernisierung“ (mit Christoph Lau und Willy Viehöver) |
Universität Augsburg | DFG | ||
12/2003 – 03/2007 | Nichtwissenskulturen. Analysen zum Umgang mit Nichtwissen im Spannungsfeld von epistemischen Kulturen und gesellschaftlichen Gestaltungsöffentlichkeiten (Projektleitung mit Stefan Böschen und Jens Soentgen) | Universität Augsburg | BMBF |
PD Dr. Peter Wehling
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Fachbereich 03 Gesellschaftswissenschaften
Institut für Soziologie
Schwerpunkt Biotechnologie,
Natur und Gesellschaft
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